Und das Wort ward Stein

„Dann ist Gott also nichts, Mose?“

„Nein, Jeschua, das Wort Gott kann nicht einfangen, was dahinter steht. Nichts, was Menschen ersinnen, könnte ihn fassen. Wir benutzen solche Wörter nur, um einander anzuzeigen, wovon wir reden. Das Wort allein ist, als brächtest du einem Menschen, der nie aus diesen Bergen herausgekommen ist, einen Krug Meerwasser und wolltest ihm damit Wissen über das ganze Meer geben.“

Das Gesicht des schreibkundigen Knaben Jeschua glänzte schon im ersten Frühlicht wie ein ölbestrichener Fladen auf der Tafel des Pharao. Er gedieh prächtig von wenig. Und er wuchs, schnell und ohne Gleichmaß, als habe die Verwirrung der letzten Knabenzeit den Körper vor der Seele erfaßt. So schien das dünne Gelenk, das aus dem Ärmel des Mantels ragte, die große Hand kaum tragen zu können. Die mit dem Griffel spielenden langen Finger zeigten, wie schwer die Gedanken arbeiteten. Jetzt hob sich der Griffel, um mit einem kurzen Stich den nächsten Einwand zu begleiten.

„Aber wie soll ich dann Gott begreifen?“

„Begreifen können wir ihn nicht, Jeschua. Wenn du ins Meer hineingreifst und deine Finger schließst, bleibt nichts zwischen ihnen. Und doch hat das Meer die unendliche Kraft, alles zu tragen und alles zu zerstören. Und wo das Meer durchs Ufer begrenzt ist, da hört er nicht auf, und seine Kraft durchdringt Meer und Berge. Wir selbst sind davor so klein, wie Sandkörnchen vor dem Meer.“

Im Gesicht des Knaben arbeitete es. Er schien die Geräusche des erwachenden Lagers der Söhne Levi nicht zu hören. Schließlich senkte er den Kopf, daß die Last der dunklen Haare über den Knoten nach vorn fiel. Auf schleppenden Füßen und in kratzenden Tönen fanden sich Wörter zu einem Sinn:

„Und wo, Mose, wo war diese Kraft, als … als meine Eltern …als sie …als sie die Wasser von Rephidim nicht mehr erreichten?“

Diese Frage, die doch jeder stellte, dem Unglück die Lebenssicht trübte, schien diesmal unvorbereitet zugestochen zu haben. Woher kam sonst der Ungeduldsschmerz im Sitz? Einmal den Atem ganz ausgehen lassen nahm den Lenden ihren Überwillen. Die Knie sanken und spürten nun wieder die kalten Steine unter dem Mantel.

…“Schau, Jeschua. Klein sind wir vor ihm wie Sankörner vor dem Meer. Und wir werden von dieser Kraft bewegt, wie das Meer die Sandkörner hierhin und dahin wirft. Und so wenig wie die Sandkörner können wir wissen warum. Oder, ja, der Kiesel, den die Wasser über den Grund des Wadis wirbeln, weiß nichts vom großen Regen in den Bergen.“

Das zweite Bild war schon wie der Ausweichschritt, der einen kraftvoll zupackenden Gegner ermüden sollte. Der Mund des Knaben verzog sich in Unmut.

„Nein, Jeschua, wir werden das Handeln dieser Kraft nie verstehen können. Wir können nur glauben, daß sie da ist und daß sie gut ist. Oder wir sagen, es gibt sie nicht und sehen unser Leben dann als von wechselnden Zufällen bestimmt an. Aber,“ – gut daß dieser Gedanke jetzt noch gekommen war- „ist nicht jeder Atemzug, den wir tun dürfen, jeder Tag, den wir leben dürfen, eine Gabe? War nicht jeder Tag, solange du die Liebe deiner Eltern um dich hattest, eine Wohltat?. Und wieviel Schönes kann dir noch begegnen? Alles, was uns wohltut, nehmen wir an, ohne zu fragen. Wenn uns aber genommen wird, dann fragen und zweifeln wir.“

Lange blieben die Augen des Kindes in der Ferne. Schließlich kam es dumpf unter dem wieder gesenkten Kopf hervor:

„Ich habe nichts gegen das zu setzen, was du sagst. Aber ich kann es nicht in mich nehmen.“

„Jeder, der Schmerz erlitt, ob Mann, ob Kind braucht Zeit dazu, Jeschua!“

Das wäre ein gutes Ende dieses Schattenschritts des Lehrens gewesen, aber die Wechselhaftigkeit seines Alters hatte dem Knaben gleich eine neue Frage eingegeben.

„Daß aber auch du nicht mehr über ihn weißt, wo er doch mit dir redet.“

„Er redet nicht mit mir.“

„Nicht?“

„Nicht so, wie wir jetzt miteinander reden.“

„Ja wie denn? Und woher kommt dann das da?“

Das Kinn des Knaben wies hinüber zu den Steintafeln mit dem geschriebenen Wort unter der überhängenden Felswand.

„Von ihm, Jeschua!“

„Ja wie denn, wenn er es dir nicht sagte?“

„Ich war auf dem Berg weit weg von allen Zwängen und hatte so lange gefastet, bis alle Wünsche, die mich hätten täuschen können, in mir verstummt waren. Und dann konnte ich spüren, was er wollte, und schrieb es auf.“

„In deinen eigenen Worten?“

Ja, es waren die eigenen, unsicher tappenden Worte, die nie bis zum Rand fassen konnten, was aus der Stille wuchs. Immer wieder im Fluß unterbrochen von der quälenden Frage, wie Gegebenes von Gewolltem zu trennen war.

„Waren es nun deine Worte Mose?“

„Ja, meine, Jeschua. Ich habe die Wörter so gesetzt, wie sie mir einfielen. Ein anderer hätte wohl andere ausgewählt.“

„Dann sind diese heiligen Worte also von dir?“

„Heilig ist nur er allein. Wörter und daraus zusammengesetzte Worte sind Menschenwerk und darum klein. Wenn du das Wort selbst zum Heiligtum erhebst, dann ist es wie ein steinerner Götze, der dem Betrug mit dem Glauben dient. Ohne den Sinn ist das Wort nur im Stein. Und damit ist es selbst Stein und nicht mehr als willenloses Werkzeug oder Waffe.“

Wieder war der Schmerz in den Sitz gefahren. Gab es doch schon so viele Erfahrungen mit der Ohnmacht des Wortes. Wahrheiten konnten nur von Mensch zu Mensch getragen werden, wenn wenn sie im Gebenden gereift waren und im Nehmenden aufgingen. Die Worte des Gesetzes konnten nur der Regen sein, der im Inneren des Menschen den Samen rechten Tuns zum Wachsen bringen sollte. Kein Zaun aus Worten konnte Menschen auf dem rechten Weg halten, wenn der Sinn nicht in ihnen lebte.

„Aber was ist denn nun dieser Sinn?“ riß die Frage des Knaben aus den Gedanken.

„Wähle dir ein Gebot aus!“

„Dann nehme ich das Gebot: … Du sollst nicht stehlen.“

„Keine schlechte Wahl, Jeschua. Sieh, ein Tier frißt, wenn es hungrig ist, trinkt, wenn es durstig ist, schläft wenn es müde ist und sucht sich ein Weibchen, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Ja selbst die Schlange, die dich beißt, tut das nicht aus Hinterlist, sondern sie hat nur diesen einen Weg, wenn du ihr zu nahe kommst.

Dem Menschen aber ist es gegeben, zwischen vielen verschiedenen Wegen zu wählen. Er kann dazu über das, was um ihn ist, hinaus sehen, wohin jeder einzelne Weg führt. Gott hat ihm dies gegeben und somit erlaubt, mehr zu haben als ein Tier, schützende Zelte, Herden und Äcker, die den Hunger fernhalten. Wo ihm das Zelt nicht reicht, baut er steinerne Paläste für hunderte von Jahren, wie du das in Ägypten gesehen hast. Grenzenlos scheinen die möglichen Wege für Menschen.

Aber die Alten erzählen, Gott habe dies erst in dem Menschen wachsen lassen, nachdem dieser von der Frucht der Erkenntnis des Guten und Bösen genossen hatte. Somit darf der Mensch alle diese Güter, die das Leben sichern, erwerben, und es ist ihm überlassen, auf dem Weg des Guten zu bleiben. Wo er im Verfolgen seines Weges aufhört, Gutes und Böses zu unterscheiden, ist er im Stande der Gier und wird sich selbst und denen, die um ihn herum sind, Schaden bringen.

Wo das Gesetz in den Menschen lebt, wohnen sie in Freude untereinander und sie sind stark, ihre Gemeinschaft zu verteidigen.

Das Gebot: Du sollst nicht stehlen ist ein Merkstein auf unserem Weg, der uns mahnt, beim Erwerb von Besitz den Weg des Guten nicht zu verlassen. Wer vom Weg des Guten abweicht, schädigt nicht nur Andere sondern schwächt auch die Gemeinschaft. Und wer will ohne den Schutz der Gemeinschaft in Freude leben und seinen Besitz erhalten?

„Aber wenn sich andere nicht an die Gebote halten, dann muß man doch etwas tun. Du sagst ja selbst, daß es sonst alle triftt.“

„Um weniger Gerechter willen hätte Gott Sodom verschont. Darum schaue jeder zuerst auf sich selbst. Das Gesetz selbst ist eine Sache zwischen dem Menschen für sich und Gott. Der in Gier Verfallene braucht Hilfe, nicht Strafe. Strafe findet er in dem, was ohne Umkehr aus seinem Leben wird. Es mag einer in gestohlenem Reichtum alt werden – der Herr läßt seine Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte – aber so lange er lebt, quält ihn der Stachel der Gier. Könnten ihn Menschen vor einen Richter bringen, so hätte dieser nur die Zahlung von Buße für zugefügten Schaden zu regeln. Genugtuung für Schaden an Leib, Ehre oder Besitz dürfen Menschen fordern, mehr aber nicht.“

Erneut krampfte der Schmerz im Sitz. Was er hier lehrte, mochte der wißbegierige Knabe wenigstens in Körnchen aufnehmen. Aber viele Leute in den zwölf Stämmen, die ein Volk werden sollten, schauten lieber auf andere als auf die eigenen Wege. Und selbst die Richter, die er auf Jethros Rat hin hatte wählen lassen, fragten immer aufs Neue nach Zusatzregeln und Strafen. In den nächsten Tagen oder Wochen mußte eine Entscheidung darüber fallen.

Bei diesen Gedanken ließ sich der Schmerz nicht wegatmen und zwang zum Aufstehen.

„Aber Mose,…“

„Nein, keine Frage mehr jetzt, Jeschua. Wir müssen gehen. Ich soll mir heute einen Zehn – Zelte – Richter vom Stamm Benjamin ansehen. Nimm frische Täfelchen mit, falls etwas festgelegt werden muß.

Sorgfältig bettete der Knabe die Lehmtäfelchen zwischen Schafwolle in seine Felltasche.

Die Länge der Schatten kündigte schon die zweite Hitze des Tages an, als die Krümmung des Felstales den Blick auf die Zelte Benjamins freigab. Vor dem Lager hatten sich im Schatten einer steilen Felswand etwa 30 Männer versammelt. Einige trugen Untergewänder oder gar nur Lendentücher. Alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf den breitschultrigen Jephrem, einen der obersten Richter Benjamins, der in einer ägyptischen Allkampfschule als Wasserträger gedient hatte. Seine gespreizten Beine und die nach hinten gebogenen Schultern verrieten seinen Stolz. Eben verkündete er mit hallender Stimme:

„Wer den Kampf ohne Waffe beherrscht, wird es leichter haben, den Umgang mit allen Waffen zu erlernen. Außerdem ist er ohne Waffe nie wehrlos. Wir alle haben Fäuste. Und eine Faust wird zur Waffe, wenn man sie richtig benutzt. Das werde ich euch jetzt zeigen. Pinehas, komm du her!“

Aus den Reihen der Männer löste sich zögernd eine Gestalt, die Jephrem fast um die Länge eines Hauptes überragte. Die Bewegungen unter dem nicht abgelegten Mantel verrieten, daß der Körper darunter grätendürr sein mußte. Der Blick aus den hohlen Augen war scheu zu Boden gerichtet.

„Komm her!“ herrschte Jephrem den Mann an. „Näher! Noch näher! So ist es gut.“ Mit hängenden Armen und gerunzelter Stirn stand die dürre Gestalt nun eine Armeslänge vor dem selbsternannten Lehrer der Kampfkünste.

„Paß auf jetzt! “ schrie Jephrem überlaut

Schwache Lehrer handelten so, wenn sie ihren Schülern die Gerichtetheit ihrer Gedanken nehmen wollten. Dann beschrieb Jephrem mit der linken Hand einen Kreis vor dem Gesicht seines Schülers, daß dessen unerfahrenen Augen ihr folgen mußten, und stieß ihm die rechte Faust gegen die Brust. Obwohl er dabei das Sitzfleisch nach hinten reckte und damit einen großen Teil der Kraft seines Körpers vergab, war der Stoß seines vom Wassertragen gehärteten Armes stark genug, um seinem Opfer den Ausgleich des aufrechten Standes zu rauben. Hustend wand sich der arme Pinehas auf dem Boden. Seine fast fleischlosen Beine strampelten unter dem hochgerutschten Mantel hervor.

„Habt ihr gesehen?“ röhrte Jephrem. „Was glaubt ihr, was geschehen wäre, wenn ich erst nach dem Kopf gezielt hätte? Steh auf, Pinehas, sei ein Mann, das war noch gar nichts. So geht das, Männer. Wenn ihr tut, was ich euch sage, werdet ihr das bald auch können. Ich zeige es euch jetzt noch mal ganz langsam, dann…“

Wie konnte dieser Zorn ihn so unerwartet überraschen, daß er sich plötzlich abgewandt hatte und beinahe dem noch staunend stehenden Knaben harte Worte gegeben hätte? War es die Gläubigkeit in den Augen der Männer? Ihr Suchen nach Hilfe im Äußeren, nach Künsten, die sie ohne Qualen zu Siegern erheben sollten, wo doch gerade im Kampf auf Leben und Tod dem Schwachen im Geiste keine Künste halfen? Sie waren eben Menschen und suchten nach Dingen, die sie greifen konnten. Und mochten die Lehren Jephrems noch so stümperhaft sein, so war ihm doch nichts vorzuwerfen, wenn er sich darum bemühte, die unerfahrenen Männer auf die kommenden Kämpfe vorzubereiten.

Nein, der Wille zum Herrschen, den er in Jephrem gespürt hatte, das hatte ihn geängstigt und zum Zorn gereizt. In seiner Gier nach Macht war dieser auf dem Weg, diese Männer zu seiner Herde zu erniedrigen. Jetzt hingen sie ihm an, weil er ihnen den Glauben gab, durch seine Lehren über andere hinauszuwachsen. Bald würden sie alles auflecken wie Salz, was er von sich gab. Und dann konnte er von ihnen nehmen, was er wollte. Pinehas hatte er eben vor den anderen geschoren, aber der würde morgen gläubig wiederkommen. Ja, selbst wenn er einen oder mehrere der Männer schlachtete, so würden ihm die anderen zujubeln, als wäre er ihr Gott. Hier tat sich ein böser Weg auf. Wie viele Männer in den zwölf Stämmen mochten bereits begonnen haben, ähnliche Wege unter den Schritt zu nehmen?

In der Mitte des Lagers Benjamin wurden sie schon von Ahas, dem obersten Richter, vor dessen Zelt erwartet. Er bot ihnen Platz im Schatten an und reichte selbst gekühltes Wasser aus dem umwickelten Krug. Wie es Brauch war, ließ er seinen Gästen Zeit, dann fragte er mit einem Blick, ob er vor dem Knaben offen sprechen könne. Umständlich zupfte er erst eine Weile seinen weißen Bart, ehe er schließlich zu reden begann.

„Du wirst dich wundern, Mose, daß ich dich wegen eines Richters über zehn Zelte herbitten ließ.”

„Wenn mich der Oberste eines Stammes rufen läßt, so nehme ich an, daß der Anlaß von großer Wichtigkeit für alle ist.

Wieder zupfte Ahas seinen Bart.

„In der Tat ist er das. Ich hätte ja, ja ich hätte schon selbst einen andern wählen lassen, aber dieser Richter, Bildad mit Namen, ist auch zum Obersten der Jungmannschaft gewählt, der „“Augen und Ohren des Stammes““, er teilt die Wachen ein und hat großen Anhang vor allem bei dem jungen Volk.“

„Was ist ihm vorzuwerfen?“

„Nun ja, daß er nichts tut, und so.“

„Was tut er nicht, und was willst du, daß er tun soll?“

Ahas suchte lange bartzupfend nach Worten.

„Eh, nun, nicht, daß ich mit ihm nicht zurechtkäme, aber er redet zu viel und urteilt zu weich.“ Die gehobebenen Schultern sanken, und er ließ die Rede nun schneller fließen: „Das sagen viele. Leute aus seinem eigenen Bereich haben sich bei mir beklagt, daß er zu wenig Strafen ausspricht, wenn gegen die Lagervorschriften verstoßen wird.

„Haben sich die Kläger beschwert?“

„Ja, ja, natürlich, die Kläger.“

„Ich gestehe es deiner Erfahrung zu, Ahas, urteilen zu können, ob diese Kläger wirklich aus Sorge um die Lagerordnung gehandelt haben, oder ob nicht schon die Anklagen nur erhoben wurden, um dem Nachbarn zu schaden, oder gar um einen anderen Streit auszutragen. Wie du weißt, Ahas, soll Recht zwischen uns dem Zusammenleben in Frieden dienen, aber nicht als Waffe gegeneinander mißbraucht werden. Dahin darf der Weg des Rechtes im Volk nicht gehen. “

„Nun ja, bei einigen konnte man das schon annehmen.“

„Was wird dem Zehnrichter Bildad außerdem noch vorgeworfen?“

„Sonst eigentlich nichts, aber es gibt Leute, die wollen trotz aller Beschwerden, daß er demnächst unter die Hundertrichter gewählt wird.“

„Und deswegen soll er jetzt nicht mehr Zehnrichter sein dürfen?“

„Die Hundertrichter sind dagegen.“

„Alle neun?“

„Nicht alle, aber einige.“

„Wer also?“

„Ich weiß nicht, ob es die Mehrzahl ist, aber einige haben offen gegen ihn gesprochen“.

Ein Mensch wie Ahas mochte drei Tage allein durch die Wüste gegangen sein, und er würde sich auch dann noch erst nach allen Seiten umsehen, bevor er einem Darmwind erlaubte, davonzuziehen.Wie hatte er seinen Reichtum von Ägypten bis hierher bewahren können? Jetzt wollte er die Namen der Richter über je hundert Zelte nicht nennen, die sich gegen diesen Bildad ausgesprochen hatten. War dies Schlauheit, war er selbst Antreiber, oder fürchtete er um das Wohlwollen der anderen Reichen im Stamm für sich? Nun, es würde sich alles zeigen.

Ahas, der wohl eine weitere Frage nach Namen fürchtete, zeigte auf die länger werdenden Schatten.

„Ich ließ dich für heute rufen, weil dieser Bildad just heute eine Klage wegen der Lagervorschriften zu klären hat. Ich habe ihm gesagt, er solle warten, bis wir kommen, aber länger sollten wir nun doch nicht mehr auf uns warten lassen.“

„Gut, Ahas, dann laß uns zu den Brunnen gehen und sehen. Du kommst mit, Jeschua, falls es etwas niederzuschreiben gibt. “

Die Hauptbrunnen des Volkes Benjamin befanden sich über dem Lager am Fuße einer steil ansteigenden Bergwand. Davor lag ein weiter sandiger Platz. Dort hatten sich bereits viele Menschen in einem Kreis versammelt, weit mehr als im Bereich von zehn Zelten wohnen konnten.

Jetzt kam Bewegung in die Menge. Die Hintersten drehten sich um, andere standen auf, um über sie hinwegsehen zu können.

In ihrer Blickrichtung wälzte sich eine gedrungene Gestalt nur mit Lendentuch bekleidet vor der steinernen Umrandung einer Zisterne hustend und würgend im Sand. Jetzt setzte sich der Mann auf und zog ein wassergetränktes Tuch von seinem schwarzbärtigen Gesicht.

„Wo, wo ist dieser, dieser Ehrvergessene?“ schrie er dann immer noch würgend und hustend, „fast wäre ich da unten erstickt.“

„Meinst du mich?“ fragte ein Mann, der eben gemächlich zwischen den Felsen hervorgeschlendert kam.

„Ja dich. Ich hatte dir doch gesagt, daß ich zweimal am Seil rucken würde, wenn der Todesatem aus dem Schlamm zu dicht würde, dann solltest du mich hochziehen, aber jetzt mußte ich selbst hochklettern und hätte es fast nicht mehr geschafft. Wo warst du?'“

„Man wird doch mal etwas erledigen dürfen, wozu man aus dem Lagerbereich heraus muß!“ antwortete der Angesprochene mit in die Breite gezogenem Mund. „Und eins sage ich dir noch: Ich bin ein freier Mann des Volkes Benjamin und besitze Zelt und Herde. Und ich lasse mir von einem Vaterlosen, der mit dem Stamm Ruben reist. nichts befehlen.“

Es wurde still. Alles schien den Atem anzuhalten ob dieser ätzenden Beleidigung.

„Dann schickt mir einen Mann, der sich an Absprachen hält, oder ihr könnt eure Lämmer behalten und eure Brunnen selbst säubern und die Wände glätten.“

Mit dieser Antwort hatte der Schwarzbärtige sowohl den drohenden Streit als auch die Selbstentehrung vermieden. Wie war ihm diese Antwort so schnell eingefallen?

„Wer ist dieser Mann, Ahas?“

„Reguel vom Stamm Ruben. Sein Vater soll Ägypter gewesen sein. Keine Erbansprüche, kein Zelt, nur ein Esel und ein paar Ziegen. Aber er war beim Brunnenbau für die Bergwerke und kann sogar Steine kochen und damit Brunnenwände ungangbar für das Wasser machen. Damit will er sich Zelt und Herde verdienen.“

„Reguel vom Stamm Ruben, ist das nicht der, der auf dem Weg nach Rephidim allein Verdurstende gegen einige Söhne Amaleks verteidigt hat?“

„Eben der. Aber er war wohl nur so mutig, weil sein Verstand zu klein ist, um die Größe der Gefahr zu erfassen. Doch warte einen Augenblick Mose, ich muß das hier wieder ins Fließen bringen.“

Und er winkte aus der Menge einen Mann zu sich, legte ihm die Hand auf die Schultern und redete auf ihn ein. Schließlich nickte der Mann achselzuckend und ging dann auf Reguel zu, der bereits damit begonnen hatte, seine Gewänder wieder anzulegen.

Nun, Ahas verstand es, wie man sah, doch, rechtzeitig und ohne großes Aufheben einzugreifen und auszugleichen, wo etwas durcheinanderzugeraten drohte. Ob seine Aussage über Reguel aber die Wahrheit traf? Konnte ein Mann von geringem Verstand halb vergiftet und vom Zorn dem Boden enthoben so sicher die einzig richtige Antwort finden?

Es blieb keine Zeit, nachzudenken, denn der Kreis um das Gericht ordnete sich wieder und Ahas führte sie zu einem Platz in der ersten Reihe.

Der Zehn – Zelte – Richter Bildad war eine auffallende Erscheinung. In einen schwarzgefärbten Mantel gehüllt, den ein breiter roter Gürtel umschlang, kauerte er mit gerade aufgerichtetem Oberkörper auf den Fersen. Seine Haare fielen ungebunden auf die Schultern und wurden von einem weißen Band aus der Stirn gehalten. Sorgfältig gepflegte Locken von den Schläfen bis zum Kinn rahmten das breite, scharfgeschnittene Gesicht ein. Lächelnd zeigte er immer wieder zwei Reihen weißer Zähne nach allen Seiten.

Links vor ihm saßen mit untergeschlagenen Beinen ein Mann und eine Frau, zwei Schritte vor ihnen ein kleines Mädchen mit hängendem Kopf, die Angeklagten. Rechts vor ihm ein mausgesichtiger älterer Mann in einem zerschlissenen grauen Mantel, der Kläger.

Bildad tauschte einen Blick mit Ahas und hob dann ruheheischend die rechte Hand. Es wurde still im Kreis.

„Die Regeln zur Reinhaltung des Lagers sind für unser aller Leben wichtig.“ begann Bildad. „Menschen, die sich dazu die Mühe nicht nehmen, verachten sich selbst. Der Same vieler Krankheiten ist die Unreinheit. Und es wird gesagt, dem kleinen Ungeziefer, das zu ihr kommt, folge größeres und diesem die Schlangen.

Wir sind heute hier, weil ein Kind angeklagt ist, die Reinheit des Lagers verletzt zu haben. Du klagtest, Jair, also berichte!“

Der kleine mausgesichtige Mann schien seine Rede gut vorbereitet zu haben. Mit halbgeschlossenen Augen wiegte er beim Sprechen seinen dürren Leib über den untergeschlagenen Beinen hin und her.

„Wie jeder in unserem Teil des Lagers weiß, wurde mir der äußerste Platz nahe der Felswand zugewiesen, als wir dieses Lager aufbauten. In dieser Nacht, von der ich jetzt sprechen will, mußten sich oben in den Wänden wilde Tiere herumtreiben,denn es kamen immer wieder kleine Steine den Steilhang heruntergerollt und störten meinen Schlaf. Außerdem war Vollmond. Irgendwann hörte ich Schritte und hob die Zeltbahn ein wenig an, um hinaussehen zu können. Da sah ich dieses Kind. Es lief an meinem Zelt vorbei und kam wieder zurück und das einige Male. Ich konnte mir schon denken, was es wollte. Statt weiterzugehen, wo es dann in das Seitental aus dem Lager herausgeht, trippelte es dann noch vor meinem Zelt hin und her und suchte sich dann den dunkelsten Platz im Schatten der Felswand um zu tun, was im Bereich des Lagers verboten ist. Ich sah noch, wie es versuchte, die Spuren seiner Untat mit Steinen zu bedecken. Aber ich hatte mir die Stelle gemerkt und konnte am Morgen den Nachbarn alles zeigen. Dieses Kind hat unverschämt gegen Regeln verstoßen, die für alle gelten. Es muß gestraft werden. Ich weiß nicht ob seine Eltern es dahin geschickt haben, aber wenn nicht, dann haben sie nicht auf ihr Kind aufgepaßt. Darum haben auch sie Strafe verdient. Alles, was ich gesagt habe, soll dem Wohlergehen des ganzen Stammes dienen. Das war es, was ich zu sagen hatte.“

Bildad ließ einige Atemzüge verstreichen, bevor er sich dem Kläger zuwandte. „Sorgfältig und verständlich hast du gesprochen Jair. Zwei Dinge möchte ich aber noch genauer wissen. Das eine: Du sagtest, in jener Nacht weckten dich kleine Steine, die den Steilhang herabrollten. Hörtest du sie auch in der Zeit, als das Kind im Freien herumlief?“

„Darauf habe ich nicht geachtet.“

„Du hast nicht darauf geachtet, aber könnte es gewesen sein?“

„Ich kann mich nicht erinnern, aber möglich wäre es schon.“

„Gut, dann das andere: Du sagtest, das Kind wäre ein paar mal an deinem Zelt vorbeigelaufen. Kannst du in etwa sagen, wieviel Zeit darüber verging?“

„Es war schon eine Weile, aber so genau kann ich es auch nicht sagen.“

„Nun, von deinem Zelt bis zur Öffnung des Seitentales ist es nicht weit. Hätte die verstrichene Zeit ausgereicht, dahin und aus dem Lager zu kommen?“

Diese Frage nötigte selbst Ahas ein anerkennendes Brummen ab, und der mausgesichtige Jair antwortete eifrig:

„Ja, dafür auf jeden Fall. Da bin ich mir sicher.“

„Gut, ich danke dir Jair, das war alles, was ich wissen wollte. Nun du, Tabeha, nun mußt du uns erzählen, was mit dir in dieser Nacht geschehen ist. Bitte Tabeha, du kennst mich doch. Erzähle es mir, mir ganz allein, bitte, Kind“

Das Mädchen schien antworten zu wollen, aber es war kein Wort zu hören. Der Oberkörper zuckte immer wieder nach vorne, als wolle es die Wörter aus sich herausschütteln.

Im Kreis kam Gemurmel auf. Was würde Bildad jetzt tun?

„Steh auf, Tabeha,“ wandte er sich mit einem wärmeren Ton in der Stimme wieder dem Kind zu, „ja steh auf, bitte, komm her zu mir, näher, noch näher, ja, so ist es gut.“

Er streckte die Arme aus und zog das Kind an sich, daß es auf seine aus dem Fersensitz vorstehenden Oberschenkel zu sitzen kam. Dort wiegte er es ein wenig und redete behutsam auf es ein, wie ein guter Vater, obwohl er selbst noch nicht Vater war, wie Ahas bestätigte. So brachte er das Mädchen dazu, seine Geschichte zu erzählen, die Geschichte eines Kindes, dem schon in der Nacht vorher kalte Luft gegen den Bauch geschlagen hatte, das vor Weh kaum schlafen konnte und dann spürte, daß der Darm entleert werden mußte, erst stockend Wort für Wort, von Schluchzen unterbrochen, dann immer fließender, bis es schließlich wie ein reinigender Bach aus ihm hervorbrach:

„Und es tat so weh, aber ich wollte die Eltern nicht wecken. Dann fand ich auch den Grabstock nicht, weil es im Zelt so dunkel war. Da bin ich so losgegangen. Als ich an Jairs Zelt vorbei war, kamen Steine den Hang herunter. Ich dachte, das sind Wölfe und ging zurück. Als ich dann keine Steine mehr hörte ging ich noch mal. Ich kam ein Stück weiter, aber dann war es wieder. Ich habe es dann noch mal versucht, aber die Angst war zu groß. Meine Mutter hat mir erzählt, daß Schlangen kämen, wenn man das Unreine nicht richtig vergräbt, vor denen hatte ich auch Angst. Glaub mir, Bildad, ich habe die ganze Zeit fest zusammengepreßt, aber jetzt tat es zu weh. So bin ich dann dorthin gegangen, wo es am dunkelsten war. Da war kein Sand, in den man ein Loch graben konnte, darum habe ich dann Steine drübergetan, daß niemand beleidigt wird.“

„Gut hast du uns erzählt, Tabeha. Siehst du es war gar nicht so schwer. Jetzt geh du nur wieder spielen.“

In dem aufkommenden Gemurmel war die Stimme des Kindes kaum noch zu verstehen.

„Die spielen nicht mehr mit mir, Bildad.“

„Warum nicht?“

„Weil ich hierher muß.“

„Dann sage ihnen von mir, dem Richter, daß sie wieder mit dir spielen sollen. Nachher komme ich vorbei, nachsehen. Und wer nicht mit dir spielt, bekommt auch kein Pfeifchen mehr geschnitzt.“

Bildad winkte kurz mit der Hand, und ein Jüngling kam, nahm das Mädchen bei der Hand und führte es weg. Hinter dem Rücken des Richters wurde ihm bereitwillig eine Lücke im Kreis geöffnet.

Jetzt fiel auf, daß in den Reihen hinter Bildad fast nur junge Gesichter zu sehen waren. Linkerhand eine Bewegung. Jephrem stieß einen vor ihm sitzenden Mann an.

„Ja, war das schon alles, Richter?“ rief dieser in den Kreis.

Bildad glättete schnell die Unmutsfalte auf seiner Stirn mit dem gewohnten Lächeln.

„Das war alles, was von dem Kind zu erfahren wichtig war. Und es hat hier genügend Angst ausgestanden.“

Beifälliges Gemurmel kam nun nicht mehr nur von den jungen Leuten. Trotzdem setzte Jephrems Mann hinzu:

„Ja kriegt denn jetzt jedes Kind noch eine Honigwabe geschenkt, wenn es das Lager verstänkert?“

Stille breitete sich über den Kreis und wurde noch gespannter, als der Angegriffene auf den Zuruf einging.

„Ich spüre die Besorgnis um die Reinheit des Lagers.“ begann Bildad lächelnd. „Über ihre Wichtigkeit habe ich erst vor kurzer Zeit gesprochen, und sie ist uns allen bekannt. Ein Kind hat gegen die Reinlichkeitsvorschriften verstoßen. Aber wie wir alle gehört haben, und wie es das Zeugnis Jairs belegt, nicht aus Leichtsinn oder Trotz sondern aus Angst und Schmerz. Wir waren alle einmal Kinder. Wer von uns wurde mutig geboren? Wer von uns wurde schon so mutig geboren, daß er furchtlos in einen Gerichtsring hineinruft“ ‑ er lächelte dem Rufer zu ‑ „und das, ohne sich das Geringste dabei zu denken? Nein das Kind trifft keine Schuld. Wir aber müssen jede mögliche Vorsorge treffen, daß dies nicht noch einmal geschieht. Ihr Eltern habt geschlafen und wußtet von allem nichts. Aber euer Kind hat nicht gewagt, euch zu wecken, als es in Not war. An euch liegt es nun, eurem Kind nicht vorzuwerfen, daß es die Familie in Schande gebracht habe, sondern Vertrauen in ihm aufzubauen, daß es euch das nächste Mal weckt in dem Wissen, daß ihr ihm helfen werdet. Nun zu dir, Jair. Du hast ein Kind in der Nacht gesehen und wußtest, was es wollte. Es war nicht dein Kind. Aber schon allein um der Reinheit des Lagers willen hättest du können aufstehen, das Kind bei der Hand nehmen und aus dem Lager führen. Du selbst sagtest, es wäre genügend Zeit dazu gewesen. Siehst du so etwas wieder, so denke bitte daran. Und das sollte jeder im Stamm. Das war es, was ich zu sagen hatte.“

Unruhiges Gemurmel hing über dem Kreis. Wieder wurde es von einer Stimme aus der Richtung Jephrems übertönt:

„Ja und das Urteil? Und die Buße?“

Bildad, schon im Aufstehen begriffen, kauerte sich wieder auf seine Fersen, um anzuzeigen, daß er noch einmal sprechen wolle.

„Ich bin immer noch dazu gewählt, hier zu entscheiden. Und ich habe so entschieden, wie es der Sache dient und dem weiteren Weg die richtige Richtung gibt. Niemand hat sich so schwer oder gar willens vergangen, daß er einer Buße zur Belehrung bedürfe.“ Seine Stimme wurde schärfer. „Aus dem, was wir heute gehört haben, ergibt sich aber eine Buße für uns alle: Nicht nur die Eltern, sondern alle Stammesgenossen müssen sich mehr um die Kinder kümmern, wenn wir sie in unsere Ordnung hineinziehen wollen. Kinder sind unsere Zukunft, gerade jetzt, wo wir auf dem Weg und bei Rephidim so viele Leute verloren haben. Aber oft scheint es so, als kümmere man sich nur dann um Kinder anderer Familien, wenn es junge Mädchen sind, und man reich genug ist, sie als Nebenfrauen in sein Zelt aufzunehmen.“

Er stand auf und drehte sich um, mit ihm seine Anhänger. Der Ring löste sich unter erregten Gesprächen auf.

Ahas neben ihm hatte bei dem letzten Satz laut die Luft durch die Zähne ausgestoßen. Aber auch ihn selbst hatten diese Worte tief ins Gedärm gestochen. Bis dahin hatte der junge Richter so viel Behutsamkeit und Wissen um den Sinn hinter den Worten der Regeln bewiesen und nun das! Es war keine Lüge, was er vorgebracht hatte, oh nein. Wenn Eltern verdursteten, getötet oder Opfer der Erschöpfung wurden, war es immer am leichtesten, junge heiratsfähige Mädchen in fremden Zelten unterzubringen. Bei Knaben wie Jeschua stieß man auf viele Ausflüchte. Das war wahr, aber nicht in allen Fällen. Und der junge Bildad hatte diese Teilwahrheit als Pfeil gegen die Älteren und Besitzenden mißbraucht, so als würde jeder von ihnen immer so handeln. Seinen eigenen Anhängern unter den meist noch familienlosen Jungen hatte er damit nach Wunsch gesprochen, aber auch ihre Augen getrübt, indem er menschliche Schwächen mit Stand und Besitz zusammenheftete. War dies jugendlicher Unbedachtheit zuzurechnen, oder verließ er wissend den Weg der reinen Wahrheit aus Gier nach Macht und Herrschaft?

„Die Hundert – Zelte – Richter, die hier sind, wollen daß du sie anhörst.“ störte ihn Ahas aus den Gedanken auf.

„Ich bin bereit dazu, Ahas, aber laß uns näher zu den Felsen gehen, hier wird es im Abendwind schon zu frisch.“

Es waren außer Ahas noch sechs der obersten Stammesrichter erschienen. die anderen mochten bei ihren Tieren zu tun haben. Wo die von den Felsen zurückkomende Wärme spürbar war, setzten sie sich im Kreis.

„Ihr seid hier,“ begann Ahas nach einer angemessenen Frist, „um Mose, dem Verkünder und obersten Sachwalter des Gesetzes eure Besorgnisse wegen des Richters Bildad vorzutragen.“

Schweigend sahen sich die Männer an. Elazar, der Älteste begann schließlich auf einen Blick Jephrems hin zu sprechen:

„Am Nil waren die Stöcke der Ägypter über uns. Alles war klar zu sehen, was man durfte und was nicht. Weil die Ägypter mit den Stöcken nicht zögerten, brauchten sie fast nie die Peitsche oder gar das Schwert. Wir haben gesehen, welche Schäden in der Freiheit wachsen, wenn jeder glaubt, er könne tun, was er will. Nun haben wir ein Gesetz, aber es ist nur geschrieben. Jeder kann es damit halten, wie er will. Wir brauchen einfach Stöcke für das Gesetz.“

„Sind die Stämme nicht aus Ägypten geflohen, weil sie die Stöcke der Ägypter nicht mehr ertragen wollten?“

„Wenn du meinst, ich wollte die Stöcke der Ägypter wieder über unseren Köpfen haben, so tust du mir Unrecht, Mose,“ setzte sich Elazar zur Wehr, „aber was wir alle wollen, ist doch Ordnung, daß wir in Ruhe leben können. Und gerade die Jungen müssen lernen, sich in die Ordnung einzufügen. Wenn man schon die Kinder einfach gewähren läßt, verwildern sie. Sie brauchen klare Vorschriften und wenn sie davon abweichen, müssen sie es zu spüren bekommen, daß der Stamm sich das nicht bieten läßt. Und darum können wir auch Richter wie diesen Bildad nicht brauchen, in deren Händen Vorschriften zu Fladenteig werden, aus dem jeder formen kann, was er will.“

„Schwer ist dein Vorwurf gegen den jungen Richter, Elazar, aber ich verstehe deine Sorge. Richtig ist, daß Kinder nicht verwildern dürfen, und daß wir sie darum auf dem Weg ihres Wachsens nicht alleinlassen können. Aber Worte bedeuten einem Kind wenig“

Die Männer folgten den so sorgfältig für sie gewählten Worten nicht. Unverhohlene Gier in den Augen starrten die meisten an ihm vorbei. In ihrer Blickrichtung ging Keiza, die Zweitfrau des Ahas, die dieser nach dem Tod ihrer Eltern in sein Zelt aufgenommen hatte, mit einem Krug auf der Schulter zum Brunnen. Der über den Kopf weg reichende Arm spannte den Mantel über ihrer Brust. Im Fluß ihres Ganges schritt sie so aus, daß das Tuch sich bei jedem Schritt eng um ihre Hüften schmiegte. Jetzt wechselte sie die tragende Schulter, und wandte dabei das Gesicht. Da war kein Wissen in den Augen. Wie sie sich bewegte, entsprang keiner Gefallsucht, sondern folgte dem Zweck des Handelns und der reinen Freude am Leben und an sich selbst. Sie dachte nichts dabei.

„So hört mich doch, Männer!“

Ertappt senkten die Angesprochenen ihre Blicke zu Boden, Ahas lief im Gesicht rot an, nur Jephrem sah ungerührt geradeaus. Mochte es eine Frage der Trägheit und der Stärke des Anstoßes sein, die anderen Männer zu bewegen, so war Jephrem ein Stein, der nach seinem eigenen Gesetz rollte.

„Wenn wir also Kindern nur Worte geben, die ihnen wenig bedeuten, so lassen wir sie damit auch allein, und die ausgesetzten Strafen werden nur Fallen für sie sein. Heute zeigte uns der Richter Bildad einen anderen Weg: Kinder an der Hand nehmen und führen. Das heißt, daß wir unseren Kindern näher sein müssen, täglich bewußt unseres Beispiels. Sind wir ihnen näher, werden wir auch wissen, was jeweils zu tun ist, um sie auf dem Weg zu halten. Ich weiß, jeder muß seine Kinder ernähren von dem, was er aus seinen Tieren erwirtschaftet. Aber sollte, was aus uns selbst gewachsen ist, nicht mehr wert sein, als die Mehrung des Besitzstandes über das Notwendige hinaus?“

Das mußte gerade diese Männer reizen, denen ihr Besitz so wichtig war, und Elazar begann erregt zu reden, diesmal ohne eine Aufforderung Jephrems.

„Das ist doch alles kraftlos wie in die Luft gestreuter Sand. Ich rede jetzt nicht mehr von den Lagervorschriften, ich rede vom Gesetz. Steht nicht geschrieben, daß man seinen Vater ehren soll, steht es oder nicht? Also, wenn nun ein Sohn eine Kindheit lang mit Wohltaten überhäuft wurde,“

Die Männer verzogen schmunzelnd die Lippen, und in ihren Blicken war Spott.

„und wenn er dann zum Mann heranwächst und verweigert seinem Vater die Achtung, soll ich ihn dann an der Hand nehmen und auf den rechten Weg führen, einen ausgewachsenen Mann? Nein hier muß das ganze Volk sich hinter den Vater stellen und zeigen, daß für den kein Platz da ist, der seinen Vater nicht ehrt.“

„Du hast dieses Gesetz in seinem Wortlaut beschnitten, Elazar. Es spricht jeden Menschen an, Vater und Mutter zu ehren, auf daß er lange lebe in dem Lande, das der Herr, unser Gott uns geben will. Er soll, aber weil er Mensch ist, kann er auch anders. Wir aber wissen doch, daß ein Mensch nur lange leben kann, wenn er im Alter geschützt wird. Auf das Kind wirkt, was es sieht und was es bekommt. Wie die Alten behandelt werden, die ja gleich ihm schwach sind, ist ihm Beispiel. Und wenn es in den Schmerzen und Ängsten seiner Kindheit bei der Hand genommen wurde, wird es das wohl nie vergessen. Diesen Weg hat uns der junge Richter heute gewiesen, wenn ich auch mit seinen letzten Worten nicht einverstanden sein kann.“

„Ich gebe nichts auf solches Jungbockgemecker.“ mischte Jephrem sich jetzt ein.

„Ich auch nicht.“ beeilte sich Ahas zuzustimmen.

„Aber“ fuhr Jephrem ein Grinsen verschluckend fort, „ich bin dafür, daß angesichts des Leichtsinns unter den jungen Leuten dem Gesetz mit aller Härte Geltung verschafft wird. Darum hat einer wie Bildad keinen Platz unter den Richtern des Stammes.“

Er warf einen Blick in Richtung der Zelte und fügte dann hinzu:

„Ihr könnt ruhig noch eine Nacht darüber schlafen. Morgen können wir uns dann wieder treffen und ihn absetzen.“

Nun äußerte sich auch einer der drei Männer, die Jephrem und seinem Anhang gegenübersaßen und bisher geschwiegen hatten:

„Ob man nun mit seinen Auslegungen einverstanden ist oder nicht, seit er die Wachen einteilt, hat es keine Zwischenfälle mehr gegeben. Darum genießt er bei vielen großes Ansehen, nicht nur unter den Jungen. Würde er abgesetzt, käme unnötiger Streit und Zwietracht unter das Volk. Darum bin ich dafür, daß er weiterhin geduldet wird. Und wir sind hier genug, um das heute schon festzulegen“

„Ist es bei eurem Volk Brauch, Ahas, daß alle Oberrichter anwesend sein müssen um eine solche Sache zu beschließen?“

„Nein“, rief der Sprecher von eben laut.

Ahas senkte den Blick vor Jephrem und schüttelte den Kopf.

„Da du mich um dieses Falles willen hierhergerufen hast, möchte ich die Entscheidung noch sehen. Und ich will morgen nach der ersten Hitze aufbrechen.“

„Nun also,“ seufzte Ahas bartzupfend, „es wird verlangt, Bildad, einen Richter über zehn Zelte nicht mehr weiter entscheiden zu lassen. Wer vertritt es, daß er abgesetzt wird?“

Jephrem, Elazar und der Mann der auf Jephrems anderer Seite saß, hoben sofort die Hand. Ahas senkte wiederum den Kopf vor Jephrems Blick, ließ die Hand aber unten. Wieder aufsehend, stellte er mit einem Blick in die Runde fest::

„Das reicht nicht aus, um einen Richter abzusetzen.“

„Wissen wir,“ knurrte Jephrem, „aber es gibt noch andere Tage.“

Dem Stamm Benjamin schien noch viel Unruhe zwischen den Zelten bevorzustehen. Aber wenigstens war für heute ein Richter gerettet, der dazu heranreifen konnte, den Sinn des Wortes ins Leben des Stammes zu tragen. Die eigenen Worte waren bei den obersten Richtern wohl auf Stein gefallen. Das mußte ertragen werden, ohne daß der Mut klein wurde. Aber die Wolke aus Hader, die über den Männern hing, drückte wie eine Last auf den eigenen Scheitel, In den Schläfen hämmerte das Blut. Es war an der Zeit, sich in der Stille wiederzufinden. Den Knaben, der in gebührlichem Abstand gewartet hatte, konnte man für den Weg ins Lager Ahas anvertrauen. Schon die Trennung des eigenen Weges von dem der Männer mit den Wolken über den Köpfen ließ den im lauernden Sitzen starr gewordenen Körper aufatmen.

Seitlich, zwischen Lager und Bergwand war eine leicht zu erkimmende Anhöhe, wohlgeeignet zum Sitzen in Ruhe. Langsam gingen die Erregungen der letzten Stunden in dieser Ruhe auf. Die Geräusche des sich auf die Schlafzeit vorbereitenden Lagers, die Rufe der Herdentiere, die von den Tränken zu ihren Plätzen zurückgetrieben wurden, die Schreie von Nachtgetier, das mit Nahrungssuche und Jagd begann, und die Ahnung von den vielen Gefahren außerhalb des Rings der gesicherten Stammeslager verschmolzen zu einem einzigen Gesang, dem Gesang des Lebens. Wie alle Lichtstrahlen in der Sonne gesammelt waren, so wurde alles Leben von der einzigen, auch dem geschultesten Verstand nicht erfaßbaren Hand gehalten und geführt. Warum wurde dem jetzt irgendwo in der steigenden Dunkelheit aufschreienden Vogel das Leben genommen, und sein Fleisch einem anderen Tier für heute zur Nahrung gegeben? Nur der Unbegreifbare wußte es. Auch das eigene Leben und das eigene Tun lagen in seiner Hand. So konnte die Last vom Scheitel herabrollen. Was geschehen war, geschah und noch geschehen würde, alles war bei ihm und in ihm aufgehoben. Dem Menschen blieb nur die Frage, ob er auch sein Bestes tat, und der tägliche Kampf gegen die Versuchung, sich selbst zu belügen. Und nichts geschah ohne diesen unbegriffenen Willen, der alles Bestehende durchwirkte, in dem der Mensch, der man war, weniger als ein Sandkorn bedeutete, aber über allen Kämpfen des Lebens doch aufgehoben in seinem Frieden.

Ein kühler Luftzug gegen die Stirn weckte aus der Versunkenheit auf. Schnell senkte sich die Dunkelheit über das Tal. Die Dungfeuer vor den Zelten wiesen den Weg.

Der Duft von frischgebackenen Fladen kam von Ahas‘ Zelt. Gebackenes war zur Seltenheit geworden im Volk. Aber ein wohlhabender Mann wie Ahas verfügte über genügend Tragtiere, um Vorrat zu behalten. Außerdem mochte der Überfluß aus dem Ertrag seiner Tiere wohl hinreichen, um auch bei herumziehenden Händlern zu kaufen.

Der Oberrichter und seine Familie saßen bereits vor dem Zelt im Kreis um das Dungfeuer. Keiza kniete neben Jeschua, hatte ihm den Arm um die Schultern gelegt und stopfte ihm mit der freien Hand gegen alle Sitte einen Leckerbissen in den Mund. Sein Blick folgte ihr, als sie leichtfüßig weiter um den Kreis schritt. War das Leuchten in seinen Augen die Dankbarkeit des Knaben, der die Mutter vermißte, oder erwachte der Jüngling schon in ihm?

Es war wenig Zeit, das seltene Mahl in Ruhe zu genießen, denn man erwies ihm als Gast zu viel Ehre. Zunächst sprach ein Mädchen die Gebote. Mit seitlich zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Augen reihte es immer im gleichen Ton Wort an Wort und atmete am Ende erleichtert auf, weil der Redefluß nicht ins Stocken geraten war. Man mußte seinen Fleiß loben und durfte nicht schon wieder sagen wollen, daß der Sinn wichtiger war als alle Wörter.

Das Dungfeuer wurde mit vorsorglich gesammelten toten Ästen zum Aufleuchten gebracht und noch ein zweites Holzfeuer entzündet. Dann zeigten zehn Jungfrauen einen Tanz und sangen Mirjams Siegeslied.

Ein Geschichtenerzähler trug ein Loblied auf Benjamin vor, der Jakobs Trost gewesen war.

Auch Jephrem kam mit einer Auswahl seiner Schüler. Sichtlich stolz führten die Männer Fauststoß und Abwehr vor und dann, wie man einen zustoßenden Speer hinter der Spitze ergreift und ablenkt.

Wenn er jetzt kein Lob aussprach so würde das nicht nur Jephrem noch mehr gegen ihn aufbringen sondern auch die stolzen Söhne Benjamins kränken. Mochte sein. daß ein Lob, das ihn schmeichelte, Jephrem in Zukunft offener werden ließe.

„Zu geschickten Kriegern erziehst du deine Männer, Jephrem.“

Aber es war dumm, Dankbarkeit zu erwarten, von einem Stein, der nach eigenem Gesetzt rollte. Das zeigte sich sofort in Jephrems Gesicht. Er drehte sich mit erhobener Faust nach allen Seiten.

„Habt ihr gehört, Leute,“ rief er, obwohl doch die eigenen Wort laut genug für alle Umstehenden gewesen waren, „Mose, der ja am Hof des Pharao über die Kriegskünste der Ägypter belehrt wurde, meint, aus meinen Männern würden gute Krieger werden.“

Beifall und Jubel erklangen aus der Runde, aber das galt wohl mehr Jephrem. Die eigene Vergangenheit bei den Ägyptern war Wahrheit. Es wäre Selbstlüge gewesen, zu hoffen, es würde niemand mehr daran denken. Aber wie gerade Jephrem jetzt daran erinnerte, das traf doch wie ein Stein.

„Ich möchte jetzt einen richtigen Faustkampf versuchen.“ rief einer von Jephrems Männem, „nicht mit festen Schlägen, nur sehen, wie man trifft.“

„Halt, das nicht,“ zügelte Ahas den Eifer der Männer gerade noch zur rechten Zeit, „eine Faust richtet auch im Spiel großen Schaden an. Und, da genug Feinde uns umschleichen, können wir keinen Hader und Zwist wegen gebrochener Nasen oder ausgeschlagener Zähne zwischen uns gebrauchen. Wenn euch ein Zuviel an Kraft plagt, so könnt ihr ja ein wenig ringen.“

Die Männer murrten zwar, aber ihre Übungen hatten so viel Kampflust in ihnen geweckt, daß ihnen auch ein harmloser Ringkampf willkommen war. Schon stand das erste Paar zwischen den Feuern, umfaßte sich und schob sich keuchend unter den Zurufen der Zuschauer hin und her, bis einer das Gleichgewicht verlor und auf den Rücken geworfen wurde.

Paar auf Paar umarmte, drängte und schob sich mit mehr Kraftaufwand als Geschick bis schließlich Joel, ein kleiner breitschultriger Mann auf säulenhaften Beinen als einziger nicht geworfen worden war.

„Ist noch jemand da, der Lust hat auf ein Kämpfchen? fragte Joel, den Mantel bereits in der Hand.

„Der Ruben ‑ Ägypter soll ein großer Kämpfer sein.“ kam eine Stimme aus dem Dunkel.

Ahas bewies erstaunliche Festigkeit in dem Willen, den Lagerfrieden zu erhalten:

„Reguel vom Stamm Ruben ist Gast in unserem Lager. Es ist gegen das Gastrecht, ihn zu einem Kampf zu fordern.“

Wieder eine Stimme aus dem Dunkel:

„Unser Gast? Er arbeitet für uns und wir bezahlen ihn dafür.“

„Jephrem und ich bezahlen ihn dafür, daß er die Brunnen für die Gemeinschaft ausbessert.“ stellte Ahas richtig, „Und ich finde, er hat seine Ruhe verdient bei der schweren Arbeit.“

„Nimm du das in die Hand, Jephrem!“ rief nun die erste Stimme wieder.

Ahas warf Jephrem einen unwilligen Blick zu. Der zögerte, aber es kamen nun immer mehr Stimmen aus dem Kreis, die ihn aufforderten, doch das Schauspiel in die Wege zu leiten. Er mochte eine Möglichkeit sehen, den Kreis seiner Anhänger zu vergrößern und winkte zwei Männer zu sich.

„Sagt ihm, er soll zu mir kommen, er kann sich was verdienen. Aber sonst nichts, versteht ihr?“

Nickend drehten sich die beiden um und verschwanden im Dunkel.

Frohe Erwartung klang aus den Gesprächen im Kreis um die beiden Feuer. Joel hatte seinen Mantel übergeworfen und lief die Arme um den Leib schlagend hin und her.

„Sie kommen!“ rief jemand, und gleich darauf standen die beiden Boten, den schwarzbärtigen Sohn Rubens zwischen sich, im Feuerschein. Jephrem ging zu dem Erwarteten hin und redete auf ihn ein. Der schüttelte zunächst den Kopf, ließ sich dann wohl doch überreden, nickte, hob achselzuckend die beiden offenen Handflächen und legte seinen Mantel ab.

„Der hat nicht Verstand genug, um sich einfach werfen zu lassen.“ murmelte Ahas, als Reguel nun im Untergewand zur Mitte ging.

Im Kreis wurde es so still, daß man das neu aufgelegte Holz im Feuer knacken hören konnte.

Joel versuchte mit einigen Scheinangriffen eine Schwachstelle an seinem neuen Gegner zu finden. Der aber blieb reglos bis ins Gesicht hinein stehen. Nur in den Augen war Sammlung. Er schien nichts zu erwägen und sich einfach dem Kampf zu überlassen. Wenn Joel versuchte, ihn am Gewand zu packen schlug er dessen Hände klatschend mit den Handflächen weg. Schließlich setzte Joel alles auf einen geduckten Angriff gegen die Beine. Aber sein Gegner glitt um seine rechte Hand herum aus der Richtung des Angriffs, packte diese Hand, zog sie an sich, streckte so den Arm und führte eine Kreisbewegung um Joels Fersen aus. Den zwang sein Schultergelenk, sich mitzudrehen, er strauchelte über die eigenen Beine, ein harter Ruck an seinem Arm gegen die Richtung seiner Bewegung, und er fiel unter dem Aufstöhnen der Zuschauer auf den Rücken.

Ahas atmete hörbar auf, als Reguel nun zu seinem Mantel ging. Aber die Sache hatte damit noch kein Ende.

„Zeig du es ihm jetzt, Jephrem!“ rief Joel, der aufgestanden war und seine Schulter schüttelte.

Sofort kam das Echo aus dem Kreis:

„Ja, zeig es ihm, Jephrem!“

„Mach ihn fertig!“

„Zeig ihm, daß wir besser sind !“

Jephrem mochte diesen Kampf wollen oder nicht, wenn er sein Ansehen behalten wollte, mußte er ihn aufnehmen.

Er warf Mantel und Untergewand einem seiner Anhänger zu und begab sich dann die gewaltigen Arme schüttelnd zur Mitte, wo ihn Reguel ohne Bewegung erwartete. Immer wieder die Richtung wechselnd begann Jephrem seinen Gegner zu umkreisen und zwang diesen dadurch, sich mitzudrehen. Als er den rechten Zeitpunkt für gekommen hielt, täuschte er einen Angriff gegen die Beine vor, richtete sich aber wieder auf und versuchte seitlich an Reguel vorbeigehend, dessen Hals mit dem Arm zu umschlingen. Aber der hatte den ernstgemeinten Angriff erspürt, führte seinen Kopf unter dem zugreifenden Arm durch, umfaßte mit dem rechten Arm den Oberkörper seines Gegners und hielt so dessen Bewegungsfluß auf. Mit dem gestreckten rechten Bein schlug er nun von hinten gegen Jephrems Beine und drückte mit dem Arm dessen Oberkörper nach hinten. Sein Gesicht kam dabei in den vollen Schein des Feuers, es blieb ohne Regung, er dachte wirklich nichts. Wie kurz zuvor Joel, verlor nun auch Jephrem das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. Im Kreis blieb es still. Reguel warf Ahas einen Blick zu und hob wie vorher schon die offenen Hände. Dann wollte er sich wieder seinem Mantel zuwenden, aber Jephrem war blitzschnell auf den Beinen und stürzte sich mit einem gegen die Kehle zielenden Fauststoß auf ihn. Ein tödlicher Stoß, wenn er traf. Reguel jedoch drehte seinen Körper blitzschnell auf den Fußballen aus der Richtung, die gewaltige Faust glitt an seinen hochgerissenen Unterarmen ab, er drehte sich weiter mit, fing diese Faust mit beiden Händen und führte Jephrem aus dessen eigenem Schwung in eine Kreisbewegung hinein. Sich plötzlich gegen diese Bewegung wendend riß er Jephrems Arm hoch, verrenkte schmerzhaft dessen Handgelenk und zwang ihn dadurch auf den Rücken. Leicht gebeugt hielt er die verdrehte Hand fest, daß Jephrem auf dem Boden vor Schmerz aufbrüllte.

„Halt!“ das war die eigene Stimme, „aufhören, sofort!“

Und ohne vorheriges Bedenken war der eigene Abstand zu den beiden Kämpfenden nur noch eines halben Armes Länge.

Jephrem faßte sich schnell.

„Ist doch alles nur Spiel und Spaß, nicht wahr, Reguel?“

Sein Handgelenk schüttelnd, stand er auf und klopfte seinem Gegner auf die Schulter. „Ich hätte dir auch noch ein paar Kunstgriffe zeigen können, aber wir haben die Leute erschreckt. Ich danke dir, daß du mitgespielt hast. Ich werde dir mehr bezahlen, als ich dir versprochen habe.“

Dann wandte er sich zum Kreis:

„Ich hoffe, wir haben euch nicht in Unruhe versetzt, ihr guten Leute, wir wollten euch nur vorführen, wie es aussieht, wenn es etwas mehr ist als nur Übung. Wir dürfen euch aber jetzt nicht noch mehr zeigen. Laßt unseren Gast durch, er hat sich seine Ruhe sauer verdient.“

Unter erregtem Gemurmel begannen die ersten, die niederbrennenden Feuer zu verlassen.

In dieser Nacht weckte irgendetwas auf um die kälteste Stunde, da sich Tautropfen auf den Zelttüchern sammeln und man die Wächter ablöst. Der Körper mußte sich im Schlaf bewegt haben, So war der Mantel verrutscht und ein Luftzug hatte den Leib getroffen. Bilder eines unruhigen Traumes konnte er sich zurückrufen. Da hatte ein schwarzer Bock zwischen den Zelten getobt. Seine riesigen Hörner waren nicht rund gewesen, sondern nach außen abgeflacht wie Schwertscheiden. Damit verletzte er Frauen und Kinder. Aber die Männer halfen ihnen nicht sondern jubelten dem Bock zu. Als er selbst sich dann auf das Tier stürzen wollte, um seinem Treiben ein Ende zu setzen, war plötzlich das Gesicht Ahmenets, seines Widersachers in der Zeit am Hof des Pharao vor dem seinen. „Du kannst nicht der Beste sein, weil du nicht richtig dazugehörst.“ flüsterte der Ägypter. Und dann fühlte er sich ohne Widerstand des eigenen Körpers zu Boden gedrückt wie damals. An mehr konnte er sich nicht erinnern. Die Sache mit Ahmenet war Wahrheit, wenn auch längst vergangene. Die geheime Botschaft des Traumes war wohl in den unnatürlich geformten Hörnern des Bockes verborgen. Hörner wie Schwerter aber ohne Schneiden und doch damit Frauen und Kinder verletzt? Das folgte einfach keinem Sinn. Unter dem Mantel hatte sich wieder die Wärme des Körpers gesammelt, und so konnte er sich willig dem weiteren Schlaf überlassen.

Tief mußte er in den zweiten Schlaf eingesunken sein, denn das nächste Erwachen, fand ihn allein im Zelt seines Gastgebers Ahas. Eine Schüssel mit Wasser, daneben Fladen und Öl auf einem Tuch standen in der Zeltmitte.

Noch nicht lange hatte die Morgensonne vor dem Zelt die Glieder gewärmt, da kam Jeschua eiligen Schrittes mit noch nassen Haaren aus der Gasse, die zum Brunnen führte, grüßte und setzte sich neben ihn. Er nahm sich nicht die Zeit, richtig zu Atem zu kommen sondern stieß noch keuchend hervor:

„Jephrem ist ein böser Mensch!“

„Nun, mein Kind, du sprichst immerhin von einem der obersten Richter dieses Stammes, aber ich will mit Ernst aufnehmen, was du empfindest. Meinst du wegen gestern abend?“

„Nein. Ich war heute früh wach und ging dann zum mittleren Brunnen, um eine große Waschung vorzunehmen. Die haben ja auch so viel schönes Wasser hier. Neben dem Brunnen ist ein kleiner Felsen. Auf der anderen Seite hatte Reguel schon angefangen, eine Grube auszuheben, ich glaube er will dort Steine kochen. Da hörte ich auf einmal, wie er mit jemand sprach. Ich sah um den Felsen, und da war es Jephrem. Er hatte Reguel etwas in einem Fellsack gebracht. Jephrem fragte Reguel gerade, von wem er gelernt hätte, zu kämpfen. Reguel sagte von niemand, es komme ihm einfach so im Kampf. Er könne es auch niemand anderm beibringen, weil wenn er versuche etwas mit Willen zu tun, dann würde es immer falsch. Jephrem bot ihm immer mehr dafür, daß er ihm seine Kunst lehren sollte, aber Reguel blieb dabei, daß er keine Kunst zum Weitergeben habe. Da wurde Jephrem so zornig, daß er Reguel schlagen wollte, aber dann traute er sich doch nicht. Er ging dann und sagte, er würde Reguel noch umbringen.“

„Du darfst, das nicht so ernst nehmen. Jephrem war auch noch von gestern Abend beleidigt. Er wird sich schon wieder beruhigen.“

„Nein, er ist böse. Ich friere, wenn ich an ihn denke. Ich habe am Brunnen noch gewartet, daß er mich nicht sieht.“

Es war wohl besser jetzt schon aufzubrechen, ohne die Rückkehr des Gastgebers abzuwarten, damit der Knabe auf andere Gedanken käme. Aber gerade eben kam ein junger Mann mit geschürztem Mantel zwischen den Zelten hervorgerannt.

„Ich sollte dich rufen, wenn du noch da seist, Mose. Es ist etwas Schlimmes geschehen. Einer der Unseren wurde in der Nacht ermordet. Du solltest kommen, meinte Ahas. Es könnte Streit unter den Männern geben.“

„Ja, ich komme. Jeschua, warte du hier im Lager auf mich. Vielleicht findest du ein paar Kinder zum Spielen. “

Der Knabe verzog unzufrieden das Gesicht, antwortete aber nicht.

Eifrig wandte sich der junge Mann um und schritt voraus. Ein Stück durch ein Seitental und dann über einen steinigen Hang hinweg zeigte er den Weg in einen kleinen von Büschen bewachsenen Kessel, den rote Felsen einfaßten. Ziegen und Schafe hatten sich zwischen den Büschen verteilt. Unruhe ging von einer Gruppe Männer aus, die rechterhand vor einem Felsen standen. Vor ihnen lag eine Gestalt unter einem Mantel.

Ahas kam ihnen entgegen.

„Möchtest du ihn sehen?“

Es half dem Toten nicht mehr, ihn anzusehen, aber Ablehnung konnte Unwillen bei den Männern erregen, und so war es besser, zu bejahen. Ahas hob den Mantel an. Ein Mann mittleren Alters lag darunter auf der Seite. Seine Augen waren offen, der Hinterkopf von einem schweren Schlag zerschmettert, das Haar mit getrocknetem Blut verklebt.

„Sein Mantel lag noch dort unter dem Felsen.“ erklärte Ahas, nachdem er den Toten wieder bedeckt hatte. Da es etwa um die Mitte der Nacht geschehen sein muß, mindestens vor der großen Kälte, ist er wohl aus irgendeinem Grunde aufgestanden, vielleicht hatte er irgend etwas bemerkt, und hier traf es ihn dann.“

„Könnte er auch im Dunkeln gestürzt sein?“

„Der Boden hier ist weich. Keine Wurzel, kein Stein. Nein, er muß erschlagen worden sein.“

„Fehlen von seinen Tieren?“

„Sein Nachbar, der ihm bei der Schur hilft, sagt nein.

„Spuren?“

„Alles Felsen ringsherum.“

„Hatte er Feinde?“

„Er lebte eigentlich immer recht für sich. Seit seine Frau starb, war er mehr bei seinen Tieren, als im Lager. Ich wüßte nicht, daß er mit jemand Streit gehabt hätte.“

„Hattet ihr hier öfter Tote auf diese Weise? “

„Früher und im alten Lager. Hier schon eine ganze Weile nicht mehr.“

Das Gespräch der Männer, das beim offenen Anblick des Toten verstummt war, lebte nun wieder auf. Jephrem führte das Wort:

„Und ich sage euch, das waren Amalekiter. Die sind mal wieder durch den Wachring geschlüpft, haben hier getan was sie wollten und husch, vorbei an den Wachen, wieder raus.“

„So einfach ist es nicht, Jephrem,“ widersprach ein älterer Mann bedächtig, „es müssen nicht Amalekiter gewesen sein. Mörder könnten auch aus dem ganzen Lagerring kommen, von anderen Stämmen, ja selbst aus unserem Lager. Wer will das wissen ohne genaue Hinweise?“

„Also, das kann ich einfach nicht glauben. Ich bleibe dabei, es waren Amalekiter oder anderes Wüstengezücht. Aber wenn du recht hättest, dann müßte man endlich mal das Gesetz härter handhaben, daß jedem die Lust vergeht, auch nur zum Geringsten. Wenn es so wässrig weitergeht, werden wir bald noch mehr Tote haben.“

Es mußte ihm endlich offen entgegengetreten werden.

„Der Blutdurst des Rächers ist oft größer als der des Mörders, Jephrem.“

Der so Zurechtgewiesene suchte nach Worten. Seine Augen wanderten umher und schienen etwas gefunden zu haben.

„Ah, da kommt er ja auch schon, der das zu verantworten hat!“ rief er laut, sichtlich erleichtert, von sich selbst ablenken zu können.

In der Richtung seines Blickes war eben Bildad mit zweien seiner Männer durch den Zugang des kleinen Felsenkessels gekommen. Er nahm sich Zeit mit einer Antwort, bis er einige Schritte vor dem stand, der ihn angesprochen hatte. Und er zeigte erst sein Lächeln, bevor er sprach.

„Du nennst mich verantwortlich für das, was hier geschah. Mich erstaunt das, weil ich nichts von einem einzigen Hinweis darauf wüßte. Oder hast du etwas gefunden?“

„Ach was, schlaues Geschwätz, das ein Mottenei in einem Sack Wolle sucht.“ knurrte Jephrem von den ruhigen Worten seines Gegenbockes in Verlegenheit gebracht, „Wir alle wissen, daß das nur Amalekiter gewesen sein können. Und die müssen ja irgendwo von außerhalb des Rings der Stammeslager gekommen sein.“

Dies war eine Gelegenheit, Jephrem noch schärfer als vorhin zurechtzuweisen.

„Du selbst sprichst Recht Jephrem. Also weißt du auch, daß Klarheit geschaffen sein muß vor dem Spruch. Und hier ist keine Klarheit gefunden.“

„Wir sitzen hier ja auch nicht zu Gericht sondern suchen nach Mördern. Und da wird man ja noch laut überlegen dürfen.“ trotzte der Getroffene.

Bildad schlug einen Ton an, der sich begütigend anhörte:

„Es ist ganz leicht zu klären, Jephrem. Zwischen dem Wachabschnitt unseres Stammes und hier gibt es mehrere Täler mit sandigem Grund. Niemand kommt von dort hierher, ohne in einem solchen Tal seine Spuren hinterlassen zu müssen. Das weiß jeder, der sich auskennt. Ich werde alle meine Leute, die jetzt nicht auf Wache sind, nach Spuren suchen lassen.“

„Und dann werden die Spuren auch schön von Stümpern zertrampelt.“ höhnte Jephrem.

„Du kannst von deinen Männern mit jeder Gruppe einen mitschicken.“ bot Bildad wieder lächelnd an.

„Es stehen keine von meinen Männern zur Verfügung.“

„Dann möchte ich wissen, wozu du alle deine Männer beim Lager brauchst.“

„Meine Männer sind keine Tagediebe. Sie haben keine Zeit, sich wie Wüstenratten im Gelände herumzutreiben. Jeder arbeitet, für die Zukunft seiner Kinder oder dafür, daß er nicht später mal anderen Zelten zur Last fällt.“

Damit drehte Jephrem sich um und ging schnellen Schrittes davon. Der beleidigende Ton seiner Rede ließ Stummheit bei den Männern zurück. Bildad hatte die Arme über der Brust gekreuzt und lächelte. Ahas fand schließlich wieder Worte:

„Es geht auf die Ersthitze zu. Tragt den Toten auf seinem Mantel zum Begräbnisplatz und gebt seinen Verwandten Nachricht.“

Erleichtert, etwas tun zu können, teilten die Männer die Aufgaben unter sich auf.

Im Lager wartete Jeschua schon mit umgehängter Felltasche. Das war gut so, denn im eigenen Inneren nagte die Ungeduld, das Lager der Kinder Benjamin nun bei dem Nachlassen der Ersthitze verlassen zu können. Es schien in dem Lager zu summen, wie in einem Nest der wilden Bienen. Zu dem schon gestern spürbaren Unfrieden war hinzugekommen, daß Blut geflossen war, und ungeklärter gewaltsamer Tod den trügerischen Glauben an die Sicherheit des Lebens erschüttert hatte. Es wurde von Mal zu Mal schwerer, dieses Haften der Menschen an ihren Wünschen und Begierden und die daraus folgenden Zwiste zu ertragen. Heute konnte er im eigenen Gedärm die Nöte des Kindes, das gestern vor dem Richter gestanden hatte, nachfühlen. Es war wohl Zeit, sich für ein paar Tage zur Ruhe und Besinnung in die Berge zurückzuziehen. Aber der Knabe! Ob man ihn dahin mitnehmen konnte?

Das Verschwinden des Lagers hinter der Biegung des Tales ließ den Atem wieder etwas leichter gehen. Doch wenig später waren hinter dem Rücken hastige Schritte, Keuchen und Rufen zu hören. Ein junger Mann kam um die Biegung gerannt.

„Halt, Mose, warte! Du sollst richten. Schlimmes ist geschehen. Es könnte noch Blut fließen, meint Bildad.“

„Was geschah denn nun schon wieder bei euch?“

„Sie werden gleich hier sein. “ keuchte der junge Mann nur und beugte sich dann mit in die Seiten gestützten Armen nach vorne, um wieder zu Atem zu kommen.

Hinter ihnen war ein kleiner Einschnitt in der Talwand.

„Setze dich dort in den Schatten, Jeschua und warte.“

Die Atemzüge des jungen Mannes klangen schon ruhiger, aber er behielt die vorgebeugte Haltung bei. Er wollte wohl keine Auskunft geben. so blieb nichts als das quälende Warten.

Schließlich wurden einzelne Stimmen laut, dann schob sich eine Gruppe Menschen um die Biegung, zwei Gestalten an der Spitze. In der einen erkannte er Keiza, die Zweitfrau des Ahas. Im Gehen preßte sie mit beiden Händen ihren in Falten zusammengerafften Mantel gegen die Vorderseite ihres nackten Körpers. Die Augen waren weit aufgerissen und das Gesicht erstarrt in Schrecken und Nichtverstehen. Neben ihr wurde Reguel geführt. Sein nackter Körper war übersät von Kratzern und sich dunkel färbenden Beulen. Ein Auge war zugeschwollen und die Nase gebrochen. Aus einer Kopfwunde tropfte Blut durch das Haar auf die rechte Schulter. Er ging unsicher und schwankend. Eintrocknender Samen auf seinem linken Schenkel ließ keinen Zweifel an der ganzen Geschichte. Zwei, die nicht dachten und handelten, wie es ihnen gerade einkam. Aber warum mußte es gerade jetzt geschehen? Hinter Reguel erschien die breitschultrige Gestalt Jephrems. Er trug einen Speer in den Händen. aber es war nicht sein eigener, ägyptischer Speer mit der Spitze aus rotem Metall, sondern ein einfacher Holzspeer aus einem Ast mit einer im Feuer gehärteten Spitze. Er mußte also einen seiner Männer bei der Bewachung Reguels abgelöst haben. In seinen Worten, die er an seine ihn umgebenden Männer richtete, klang fast so etwas wie Fröhlichkeit, und er sprach so laut, daß ihm, Mose, kein Wort entgehen konnte:

„Nicht wahr Männer, jetzt ist es endgültig Zeit, das Gesetz in die Fäuste zu nehmen. Was soll uns auch ein Gesetz, das nur auf Tafeln steht?“

Tafeln, steingewordenes Gesetz, die Hörner des Bockes im Traum!

„Ohne, daß auch mal was getan wird, geht es nicht mehr weiter, sage ich euch Männer. “ fuhr Jephrem fort. „Ruben war gierig auf eine Frau seines eigenen Vaters, und seine Söhne sind gierig auf unsere Frauen. Man sieht es ja. Was kommt noch, wenn wir uns das gefallen lassen?“

„Und der da “ hängte einer seiner Männer an, „gehört ja nicht mal richtig dazu, der ist ja ein Ägypter.“

„Ja, richtig!“ Jephrems Stimme rollte jetzt gegen die Talwände und wurde von dort weitergeworfen, „Und schließlich sind wir ja hier, weil wir uns von keinem Ägypter mehr etwas gefallen lassen wollen!“

Die Drohung im Doppelsinn seiner Rede war eine erhobene Faust.

Wenn jetzt doch nicht auch noch das geplagte Gedärm an die Entfernung der schlecht vertragenen Mahlzeit erinnern wollte!

Wenige Schritte vor ihm kam der Menschenhaufen zum Stehen. Einige Atemzüge lang kam etwas Klarheit in das noch offene Auge Reguels.

„Es kam einfach über uns, Mose, wir haben uns nichts dabei gedacht.“ kam es leise zwischen seinen geschwollenen Lippen hervor.

„Du bist hier nichts mehr gefragt!“ herrschte Jephrem ihn an und versetzte ihm einen Stoß mit dem Ellbogen, „Ahas, komm her und trage dem obersten Sachwalter des Gesetzes deine Klage vor.“

Geröteten Gesichts und mit den gebeugten Armen zuckend wie ein aufgestörter Sumpfvogel kam Ahas nach vorne. Immer wieder nach Luft ringend begann er zu sprechen:

„Diese beiden haben zwischen den Felsen bei den Brunnen einander beigewohnt und somit die Ehre meines Zeltes beschmutzt.“

„Wer sind deine Zeugen Ahas? “

„Mindestens fünf von diesen Männern.“

Er deutete auf die Begleiter Jephrems.

„Was taten fünf von deinen Männem um diese Zeit bei den Brunnen und noch dazu bewaffnet?“

Das war eine Frage aus Schwäche, und er hätte sie gern zurückgehalten, kaum daß sie ihm entglitten war. So leicht waren die finsteren Absichten Jephrems nicht aufzudecken. Und dieser nutzte die Blöße gleich zu einem neuen Angriff:

„Habt ihr das gehört, Männer? So von hinten her fragt kaum ein ägyptischer Richter. Wer hat hier eigentlich das Gesetz gebrochen? Wir etwa? Ihr wart doch da, um euch zu reinigen, bevor ihr mit euren Waffen auf Mördersuche gehen wolltet.“

„Wie du es sagst, Jephrem. “ antwortete ein auf seinen Speer gestützter Mann grinsend.

„Das war nur eine Frage, keine Anschuldigung, Jephrem. Der Sachverhalt ist ohnehin klar. Diese beiden haben gegen das Gebot, das zur Unterlassung des Ehebruches aufruft, verstoßen. Ihnen ist aufgegeben, vor dem, von dem alle Gebote kommen wieder rein zu werden. Dir aber, Ahas, ist Schmerz und Unrecht zugefügt worden. Also steht es dir zu, eine entsprechende Buße zu verlangen“

Ahas schien von einer Last befreit. Überlegend wiegte er den Kopf und schien dann sprechen zu wollen. Aber die grollende Stimme Jephrems kam ihm zuvor:

„Schande für den ganzen Stamm! Schande kann nur mit Blut abgewaschen werden !“

Nun war das Wort im Licht. Diese reißzähnige Forderung nach Blut ließ selbst Jephrems Anhänger für Augenblicke still werden. Dann aber schien ihre Begierde die Luft noch mehr zu erhitzen.

Seitwärts des Menschenhaufens stand Bildad. Er trug die zweitönige Knochenpfeife, mit der er seine Männer von der Jungmannschaft jederzeit zusammenrufen konnte, am ledernen Riemen sichtbar über dem Mantel. In seinen Augen lag offen die Frage, ob er etwas tun solle.

Es konnte keine guten Früchte wachsen lassen., sich jetzt mit ihm zu verbünden und damit auch zwischen ihm und Jephrem Partei zu ergreifen. Nein, Ahas war der Stein, der bewegt werden mußte.

„Blut für Schande war nie eine Regel, auch nicht zu den Zeiten der Väter. Und es wäre mehr, als einen Zahn mit einem Auge zu vergelten. Ahas, du kannst über die angemessene Buße entscheiden. Blut, so sagten die Väter auch, kommt über den, der es vergießt und der es fordert. Die Regel sieht Wiedergutmachung in Ehren vor, nicht Rache. Rache und Blut sind Brauch bei den Götzendienern, die uns bedrohen. Unsere Väter erzählen, daß Gott sogar den Brudermörder Kain am Leben ließ!“

„Wir sind nicht hier, um alte Geschichten zu hören!“ brüllte Jephrem jetzt gar. Sein Gesicht war rot angelaufen.

Unüberhörbar der Beifall eines Teils seiner Männer. Für diese war er jetzt schon wie Gott. Waren die anderen noch einzufangen?

„Hört Männer, welcher Mann ist ohne Vater? Welcher Stamm, welches Volk vergißt seine Väter? Wer sich von seinen Vätern lossagt, der …“

Ein Schrei wie der eines brünstigen Hammels. Aus der Kehle Reguels kam er. Der hatte den Kopf zurückgeworfen und schüttelte die Männer, die seine Arme hielten, wie Puppen. Dann sank sein Kopf mit einem Röcheln nach vorne. Losgelassen fiel der zuckende Körper auf das Gesicht. Unter dem linken Schulterblatt ragte aus dem Rücken die abgebrochene Spitze des Holzspeeres.

„Der Narr hat sich selbst aufgespießt, so was Verrücktes!“

Jephrem Stimme klang, als erzähle er eine Lachgeschichte. Er hielt den abgebrochenen Speer in der linken Hand und wischte sich mit der rechten einen Blutspritzer von der Wange.

„Ja, plötzlich wurde er verrückt, begann zu zappeln, und dann warf er sich nach hinten in den Speer. “ pflichtete der Mann rechts vor ihm bei.

Wenn nur nicht das tobende Gedärm alle Kraft aus Körper und Kopf gezogen hätte. Der Stab mußte dem Körper als Stütze dienen. Kitzelnder Schweiß lief die Innenseite der Schenkel hinunter.

Hier lag ein Sterbender. Ob Mord oder nicht würde nicht zu klären sein. Aber er war vom Stamm Ruben. In diesem Stamm herrschte Verbitterung über die anderen Stämme, nicht nur wegen der Benachteiligung bei der Verteilung von Lagerplätzen und Weiden. Die Männer Rubens würden das geflossene Blut nicht mit Verständnis hinnehmen. Wenn man eine Stammesfehde vehindern wollte, ‑ dieser Gedanke, der sich nachtkalt aus dem Wägen von einem zum anderen ergab, jagte neuen Schmerz durch das Gedärm ‑ dann mußte es wirklich ein Blutgericht gegeben haben, für Angehörige beider Stämme.

Keiza als Opferlamm für die Einigkeit der Stämme? Sie dachte nicht. Was geschehen war, war über sie gekommen, und sie zu strafen würde dem Sinn des Gesetzes widersprechen. Es mußte einen anderen Weg geben. Der konnte gefunden werden, aber war es möglich, diesen aufgestörten Bieneschwarm um ein paar Schattenschritte zu Ruhe und Besinnung zu bitten, um von den rennenden Gedanken weg zum Fühlen der Wahrheit zu kommen?

„Und was ist jetzt mit der Hure?“ rief der Mann neben Jephrem.

„Ja, was machen wir mit ihr?“ pflichteten mehrere bei.

Das geflossene Blut hatte schien in den Männern den Sinn des Raubtieres erweckt zu haben.

„Die Ägypter geben sowas den Krokodilen!“ kam eine Stimme von hinten.

„Und wo willst du hier ein Krokodil hernehmen?“ lachte Jephrem.

Das Hyänengelächter fast aller zeigte, daß Jephrem jetzt die ganze Herde am Riemen hatte. Und er genoß es. Mit erhobener Faust drehte er sich nach allen Seiten, solange das Gelächter anhielt.

„Wenn wir also schon kein Krokodil haben, so können wir es doch Ahas überlassen, was mit ihr geschehen soll.“ sprach er dann in die eingetretene Stille.

In seiner Gier nach Anhang hatte er wohl einen Fehltritt getan, denn das wütende und enttäuschte Murren der Männer hallte von der Felswand wieder. Ihr Blutdurst war fast ebenso stark wie die Macht Jephrems.

Dessen Augen gingen suchend umher, bevor er erneut den Mund auftat.

„Und den Ägypter schicken wir heim, er soll seine Tafeln sauber lecken!“

Hatte Jephrem das wirklich hervorgespuckt? War das Ohr einer Täuschung erlegen oder hatte es sich geweigert aufzunehem? Nein, es war in den Gesichtern ringsum zu lesen, da blieb kein Zweifel übrig.

In den Schläfen hämmerte das rauschende Blut. Ein abtrünniger Mächtiger in einem Stamm konnte doch noch überwunden werden. Aber mit wessen Hilfe, wenn er selbst hier als Geprügelter davongehen mußte? Nein nicht Sandkorn vor Jephrem, niemals! Es gab nur ein Mittel, ihm Macht zu zeigen und seine Männer selbst in Bewegung zu setzen! Mochte somit das Gesetz zum strafenden Hirtenstab in der eigenen Hand werden.

Fremd, kratzend und viel zu hoch war die eigene Stimme im Ohr:

„Führt die Ehebrecherin in die Senke vor dem Lager und steinigt sie dort!“

In Jephrems Augen wurde Unglauben zu Wissen. Seine Männer standen einen Atemzug lang erstarrt, dann stürzten sie sich auf Keiza. Brünstige Fäuste griffen in das junge Fleisch und stießen, warfen die Frau einander zu. In gellenden hohen Tönen zerschnitt ihr Schreien die heiße Luft. Dem hörenden Sinn kaum faßbar zerbarst daraus immer wieder das Wort Gott an den unbewegten Felswänden.

Ahas hob einen Arm, schien etwas sagen zu wollen. Aber Jephrem griff sein Gewand mit der Faust an der Schulter, riß ihn herum und zog ihn mit.

Kalte scharfe Krallen schienen im Leib zu wüten. Jetzt endlich dem Drängen nachgeben! Aber die Wendung des Blickes zeigte den Knaben Jeschua, den er, gefangen im Handelnmüssen, vergessen hatte. Fahle Blässe überzog das Gesicht, das nicht mehr aussah wie das eines Kindes. Der Mund war länger und schmaler geworden und von den Nasenflügeln zogen sich zwei Falten zu den Mundwinkeln. Aber der Blick seiner Augen war der eines Leoparden vor der Speerspitze, wenn sich im nächsten Augenblick entscheidet, ob er flüchtet oder zur Kehle springt.

„Schreib!“ donnerte darum die eigene Stimme den Knaben an, und der nahm gehorsam Tafel und Griffel aus der Tasche.

„Wenn einer mit dem Weibe seines Nächsten Ehebruch begeht, so sollen beide, der Ehebrecher und die Ehebrecherin, getötet werden!“

Ich weiß, in Trennung von dir habe ich gehandelt, o Herr, aber ich war allein. Und nun ist es geschrieben. Weit über meinem Verstehen bleiben deine Wege.