Der Krieg beginnt vor der Schlafzimmertür

Meine literaturbeflissenen Bekannten rümpfen die Nasen, wenn ich auf das Nibelungenlied zu sprechen komme: „Verherrlichung von Gewalt, Stalingradmentalität, Verehrung von Totschlägern und Aufruf zum Führergehorsam durch die sattsam bekannte Nibelungentreue!“ so lauten die meistgebrauchten Vorwürfe. Meine so sehr literarisch gebildeten Bekannten sind natürlich clorbleichebeständige Intellektuelle und würden als solche im Kampf gegen Vorurteile ihre letzten Blutstropfen auf den Barrikaden verspritzen.

Wenn einer schönen und geistreichen Frau Gewalt angetan wird, ohne daß sie sich wehren kann, hat sie es dann für alle Zeiten verdient, daß man wegsieht, wenn sie vorübergeht? Oder gar Übles über sie tuschelt, ohne sie genauer zu kennen?

Gute Literatur, wie man weiß, erfüllt keine Wunschträume und bemäntelt keine Ideologien sondern setzt sich mit dem Leben, wie es ist, auseinander. Nur solches Fundament trägt einen annehmbaren literarischen Überbau.

Wie sieht dies beim Nibelungendichter aus, der sich ja auf die „alte maere“, den überlieferten Mythos beruft?

In seiner Umwelt, um das Jahr 1200, ist Krieg etwas Normales. In unserer heutigen Zeit sieht man ihn als etwas Unnormales an, wiewohl er trotz internationaler Friedensbewegung nicht weniger häufig ist. Wenn man schon ausgebrochene Kriege nicht mehr verhindern kann, so stellt sich doch die schmerzhafte Frage, wie es so kommen konnte, heute wie gestern.

Im Nibelungenlied ist die Wurzel der am Ende alles verschlingenden Blutorgie ein simpler Betrug:

Gunther, König der Burgunder, also der ins gemachte Nest Geborene, von klein an zum Chef Bestimmte, wünscht eine würdige Gattin. Seine Wahl fällt ohne Berücksichtigung der Person auf die sagenhafte Brunhild, die keinen Mann heiraten möchte, den sie verprügeln kann. Vor dem heutigen Hintergrund vielfacher Gewalt gegen Frauen mag man fragen: Warum eigentlich nicht? Aber schon allein, daß eine Frau überhaupt ein Ansinnen stellte, war ein Unding sowohl in der ritterlich höfischen Umwelt des Dichters als auch im Bereich der Herkunft der „alten maere“, wo die Frau „Rindererwerberin“ hieß, und nach bestehendem Recht an den Meistbietenden verschachert werden konnte. Diese rebellische Frauengestalt, die in den Sagenkreisen anderer Kulturen ebenfalls vorkommt, folgt nicht den üblichen Wegen, tut nicht, was „man“ tut, und wird dadurch zu einer Minderheit. Genauso springt man auch mit ihr um.

Regeln werden meistens dann gebrochen, wenn jemand etwas begehrt, was ihm nicht zusteht: Da Gunther der Kraftprobe mit der aufmüpfigen Maid nicht gewachsen wäre, versichert er sich der Hilfe des überstarken Siegfried. Indem er sich mit etwas schmücken will, das ihm nicht ansteht, bewegt er sich in die Welt des Scheinens nach außen, die uns doch heute gar nicht so unbekannt ist. Als Politiker weiß er, daß es nichts zum Nulltarif gibt, also bietet er Siegfried seine Schwester Kriemhild als Gegengabe an.

Diesen Siegfried scheint die Sage zunächst als mythische Wunschgestalt geschaffen zu haben: Übermenschlich stark und unverwundbar besitzt er auch noch eine Tarnkappe, die ihn unsichtbar werden lassen kann. Aber schon die Sage ließ ihm als Bindeglied zur wahren Welt seine Achillesferse, eine verwundbare Stelle zwischen den Schultern. Der Nibelungendichter führt hier auch gleich die Achillesferse der Persönlichkeit Siegfrieds vor: Aus eigensüchtigem Motiv beteiligt er sich bedenkenlos an einem Betrug und vergißt dabei seinen vielgerühmten Edelmut. Für den kritischen Leser ist er ab da kein Unschuldslamm mehr. Es wirkt auffällig und übertrieben, daß der Dichter Siegfrieds Namen unermüdlich von den Begriffen „edel“ und „Herr“ begleitet sein läßt. Ob er damit wohl den Herren seiner Zeit ihre Standesdünkel um die Ohren klatschen wollte?

Der Dichter scheint die Lese- und Hörgewohnheiten der Menschen sehr gut gekannt zu haben. Einzelne Wörter erregen Vorurteile, die den Handlunszusammenhang verschleiern und dessen Aussage der Wahrnehmung entziehen. Nicht nur für das eigentlich verspottete ritterlich-höfische Publikum, sondern auch Generationen von Literaturkritikern bis zu den heutigen Mäklern war und ist Siegfried rundum ein Held. Ja, es kommt in der Gegenwart noch vor, daß man einen verehrten Sportler als „Jung Siegfried“ bezeichnet.

„Jung Siegfried war ein stolzer Knab“, dichtete einst Ludwig Uhland. Hätte er sich genauer angesehen, wie sein Held handelt und denkt, wäre ihm wohl für den Anfang ein anderes, ebenfalls einsilbiges Adjektiv eingefallen. Aber auch er erlag der literarischen Raffinesse des Nibelungendichters.

Darum ist diesem auch zuzutrauen, daß er die Gestalt Siegfrieds aus dem überlieferten Mythos auswählte, um die Wunschträume der professionellen Schlagetots seiner Zeit zu ironisieren: Stärker als Alle und dazu, wenn schon nicht von Natur aus unverwundbar, dann vielleicht durch immer perfektere Arbeit der Rüstungsschmiede. Die Aventiure über den Angriff der Sachsen und Dänen gegen die Burgunder hat der Dichter wohl nur eingefügt, um vorzuführen, welchen Spaß man mit solchen Gaben haben könnte. Neben zwei Königen räumt Siegfried auch noch im Alleingang dreißig schwerbewaffnete Reiter ab und wird zum totalen Helden.

Die Minderheit Brunhild wird nicht nur zum sexuellen Objekt. Man grenzt sie aus, erkennt sie nicht als Mitmenschen an. Was innerhalb einer Gemeinschaft streng verboten wäre, Lüge und Betrug, gilt ihr gegenüber sogar als Heldentat. Niemand findet etwas dabei, auch nicht der Leser, wenn er Helden sucht, statt zu reflektierende Sicht auf das Leben.

So verhilft Siegfried versteckt unter der Tarnkappe Gunther zu einem Wettkampfbetrug, von dem medaillengierige Funktionäre der Jetzzeit nur träumen können Gunther kann die Schlafzimmertür öffnen. Aber da ist die Unvollkommenheit seines Helfers: Siegfried ist ein miserabler Politiker. Als Stümper in der hohen Kunst des Vertuschens hat er Brunhild die unnötige Lüge aufgetischt, er sei als abhängiger Gefolgsmann des Burgundenkönigs vor und nach dem Wettkampf anwesend gewesen. Gunthers Braut mißfällt, daß er seine Schwester einem „Eigenholden“ zur Frau gibt. So gibt es erst Streit vor der Schlafzimmertür und dann in der Hochzeitsnacht keine Liebe für den König sondern eine wohlverdiente Tracht Prügel. Danach wird er gefesselt an einem Kleiderhaken aufgehängt. „Traun für Schlafstörer ein wunderstrenges Verbot.“ merkt der Dichter trocken an. (Legerlotz Übersetzung) Gäbe es heute noch solche urige Frauentypen, würden es wohl die modernen Kleiderhaken nicht aushalten!

Aber der Betrug muß weitergehen. Von der Tarnkappe in Gunther verwandelt soll Siegfried in der nächsten Nacht die störrische Brunhild gefügig prügeln.

Diese setzt sich in der burlesk geschilderten Szene in bewährter Weise zur Wehr:

„Da warf die schöne Jungfrau mit Macht ihn aus dem Bett,

Daß laut sein Haupt erdröhnte an eines Schemels hartem Brett.“

Anmerkung des Dichters hierzu: „Ob je für ein zerzaustes Kleid ein Weib sich so gerochen hat?“

Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob die ritterlich höfische Gesellschaft so verlogen war, daß man Gedichte über „hehre Minne“ genoß und Vergewaltigung in der Ehe als normal ansah. Es sieht aber stark darnach aus, daß der Erzähler Siegfried nun auch als Macho entlarven will, als er ihn denken läßt:

„“O wehe, „“dachte der Recke, „“soll ich Leben und Leib

Durch eine Magd verlieren, so trägt wohl manches Weib

Gegen ihren Gatten hinfürder kecken Mut,

Die sonst es niemals wagte. Das täte wahrlich nimmer gut.““

Und so setzt der große Held, eigentlich schon geschultert, im Kampf für die Überlegenheit seiner Geschlechtsgenossen zum Befreiungsgriff an, gestaltet das Ringen wieder offen und setzt dann Brunhild zu, bis sie ihre Kapitulation erklärt: „Deiner edlen Minne wehr ich länger nicht.“ Edel ? Zuhältermilieu im Königspalast! Dem edlen Publikum des Dichters fiel das nicht auf, ihm war der eigene Stand eben immer das Gute, und sie betrachteten Dichtung wohl wie Westernfans. Nun läßt Siegfried auch noch ganz unedel aus Versehen Brunhilds Gürtel mitgehen, bevor er diese Gunther zur Vollstreckung überläßt. Das Zuspätkommen im eigenen Ehebett muß wohl Unmut und bohrendes Fragen seitens der frischangetrauten Kriemhild ausgelöst haben, denn um das Klima im Ehebett zu reparieren, plaudert der Held entgegen einem geleisteten Schweigeeid später alles aus und schenkt seiner Frau den Gürtel. Schmutzige Geheimnisse werden in Betten verraten.

Der Dichter läßt seinen „Helden“ nun eine jahrelange „Biedermeierzeit“ (Fernau) Gras wächst über Betrug und Lügen. Das „Image“ nach außen stimmt, und die Nutznießer dürfen vergessen, wie es erworben wurde. Aber die böse Tat ist kein toter Gegenstand und hat ihr eigenes Gesetz.

Der Nibelungendichter wußte noch nichts von Transaktionsanalyse. Aber er kannte die Menschen, und so kannte er auch das Psychospiel „Meins ist besser als deins.“ Kriemhild und Brunhild spielen es bei einem standesgemäßen Familientreff. Mein Mann ist der Schönste, mein Mann ist der Beste, mein Mann ist der Mächtigste. Hier hakt Brunhild in aller Unschuld ein und verweist auf die Gefolgschaftslüge, die Siegfried ihr vor Jahren aufgetischt hat. Kriemhild weiß davon nichts und fühlt sich ungerechtfertigt beleidigt. Sie nimmt grausame Rache beim Streit der Königinnen auf der Münstertreppe, der vielbesungenen „Senna“. Hier nutzt sie das ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute Wissen um Wettkampf und Brautbett. Als Beweis zeigt sie den in der Hochzeitsnacht abhanden gekommenen Gürtel Brunhilds. Sie geht sogar soweit, ihrer Kontrahentin vorzuwerfen, sie sei Siegfrieds Kebse, denn er habe damals mehr an ihr vollzogen, als sie nur im Schlafzimmerringkampf besiegt. Zwei Königinnen bekarken sich, wie es Marktweibern nachgesagt wird. Dabei sind beide Betrogene in einer von Männern bestimmten Welt. Aber statt sich dessen bewußt zu werden, zerfleischen sie sich um den Rangplatz, der ihnen durch ihre Männer gebühren soll. Scheint auf den ersten Blick unmodern, ist es das aber wirklich?

Der künstliche Putz über Betrug und Lüge ist geplatzt, der Skandal ist da, und die Vergangenheit hat die Vertuschungskünstler eingeholt. Aber man glaubt mit der Aufrechterhaltung des äußeren Scheins weiterwursteln zu können. Öffentliches Ehrenwort Siegfrieds, Ehrenerklärung Gunters, aber dieses parlamentsreife Theater schafft auch hier nichts von Dauer. Brunhild gibt sich nicht zufrieden und ebensowenig Hagen, die graue Eminenz und der Pragmatiker in der burgundischen Politik. Für ihn ist sein Königshaus sein Lebenswerk, seine Ideologie. Gut ist, was dem Ansehen seines Königshauses dient. Er findet sich nicht damit ab, daß man tuscheln könne, die kommenden Thronerben könnten Kuckuckseier sein. Wer diese schöne Ordnung gestört hat, muß verschwinden, für immer und zur Warnung für alle. Im Thronrat gibt es etwas Zustimmung und viel Schweigen. Nur der Königsbruder Giselher, hier der Vertreter der idealistischen Jugend, widerspricht leidenschaftlich, ordnet sich aber letztendlich doch der Familien – und Staatsraison unter. Es gibt keine Unschuldigen. So führen Lüge und Betrug schließlich zum Mord.

So leicht ist aber die Welt nicht in Ordnung oder zur gewünschten Ruhe zu bringen. Kriemhild verweigert die von ihr erwartete Rolle der duldenden und dienenden Frau. Sie gesteht sich selbst ihre Mitschuld nicht ein, leistet keine Trauerarbeit, wie das von wirklich edlen Menschen erwartet wird, und vergräbt sich in ihre Trauer, die in Rachsucht umschlägt.

Am burgundischen Königshof kommt sie nicht zum Zuge, denn Hagen beraubt sie ihres Machtmittels, als er den von Siegfried hinterlassenen Nibelungenschatz im Rhein versenkt. Der Theaterdonner der königlichen Brüder, die sich nach Absprache für die Tatzeit auf Reisen begeben hatten, schien mir ursprünglich eine Einfügung der schwarzweißmalenden Redaktoren der verschwundenen Urhandschrift zu sein. Heute glaube ich aber, daß der Dichter zeigen wollte, daß die Schmutzarbeit im zweiten Glied verrichtet wird, während das erste Glied von nichts etwas zu wissen vorgibt. Watergate am Hof von Burgund.

Kriemhild ordnet ihre ganze Person dem Rachemotiv unter und nimmt die Werbung des Königs Etzel an, der als Herrscher des Hunnenreiches über die größten Machtmittel verfügt. Nun ist es eine Frau, die das Schlafzimmer nicht um der Person des Partners willen betritt.

Nach einer angemessenen Frist lädt die Königin der Hunnen ihre Brüder samt Gefolge an den Hof ihres mächtigen Gatten ein. Blauäugig glauben die Brüder, durch neues Eheglück sei Kriemhild von ihrer Rachsucht geheilt. Der wissende Hagen folgt ihnen, weil er sich nicht Feigling schimpfen lassen will.

Am Etzelhof wollen drei Könige den Frieden erhalten: Gunther, Etzel und Dietrich von Bern. Aber die Dame sticht sie aus mit Hilfe eines Bauern: Kriemhild gewinnt für ihre Kriegspläne den unbedeutenden Bruder Etzels, indem sie ihm Land (der Machtfaktor im Zeitalter der Lehen!) Gold und eine Frau verspricht. Blödel heißt dieser Mensch auch noch! Der Nibelungendichter trägt hier schon sehr dick auf. Aber kein Krieg ohne Kriegswillige. Sind es nicht oft die in der bestehenden Gesellschaftsordnung Unterprivilegierten, die Versager und Verdränger, die für Ideologien anfällig sind und glauben, aus einem Krieg als hochgeehrte Helden heimkehren zu können?

Blödel fällt mit seinen Männern über die Knechte und Troßbuben der Burgunder her. Bei den Schwächsten ist am leichtesten etwas zu gewinnen. Er verliert dabei zwar den Kopf, rein körperlich, und ausgeträumt ist der Heldentraum wie in jedem Krieg so viele, aber sein Zündeln hat sich gelohnt: Blut ist geflossen und das Inferno bricht aus.

In einem Gemetzel, in dem das Blut der Erschlagenen den Kämpfenden bis zu den Helmringen hochspritzt, wenn sie aufeinander losstürzen, spielen sich Szenen von unerhörter Härte und Grausamkeit ab, aber da und dort zeigen sich die blutrünstigen Recken auch von der menschlichen Seite. Hier tun sie ja auch das, was sie wirklich können, nachdem sie im zwischenmenschlichen Bereich auf ganzer Linie versagt haben.

Selbst Hagen ist eine menschliche Geste gegönnt. Gunther, bisher nur Zögerer und Königsatrappe, wird mit dem Rücken an der Wand plötzlich entscheidungsfähig. Seine wichtigste Entscheidung nehmen allerdings seine beiden Brüder vorweg: Sie lehnen die von Kriemhild geforderte Herausgabe Hagens und den dafür gebotenen freien Abzug ab. Das ist die Nibelungentreue, die Treue des Gefolgsherren zu seinem Mann und nicht das gehorsame Krepieren für einen Führer im sicheren Bunker.

Unvernünftig ist die Entscheidung wohl, aber auch Bewahrung von Werten mitten im Inferno. Rationale Entscheidung und Werte stehen hier zueinader im Gegensatz. In der Umwelt des Nibelungendichters konnte der Lehnsherr über seine Vasallen verfügen, da sie auch materiell von ihm abhängig waren. In der Völkerweanderungszeit war Gefolgschaft noch mehr eine zwischenmenschliche Beziehung. Der Führer, der seinen Mann im Stich ließ, war erledigt. Wenn der Dichter hier auf die Zustände der „alten maere“ zurückgreift, so hält er auch damit wohl einem vermeintlichen Übel seiner Zeit den Spiegel vor. Als er erzählt, daß Etzel bereit ist, sich in forderster Linie den blanken Schwertern zu stellen, merkt er an: „wie selten üben jetzo die Fürsten gleiche Pflicht“ Und wer heute den Begriff der „Nibelungentreue“ so leichtfertig auspackt, wenn „Treue“ ihm Nachteil einbringen könnte, der beweist eine Bildungslücke.

Das Gemetzel geht weiter. Eine Frau, die sich zweckbewußt in ein Schlafzimmer begab, verspricht immer wieder Gold, Land und Burgen. Aber Söldner am Etzelhof und hunnische Recken sind bald nicht mehr bereit, ihr Leben gegen die wehrhaften Burgunden aufs Spiel zu setzen.

Das Inferno verschont keinen: Markgraf Rüdiger, der jedem gut will, ist Etzel durch seinen Lehnseid verpflichtet. Als Brautwerber für Etzel, hat er Kriemhild geschworen, jedes Leid zu rächen, das ihr zugefügt werde. Den Burgunden ist er freundschaftlich verbunden. Auf ihrem Weg zum Etzelhof hat er sie bewirtet, beschenkt und dem Jungkönig Giselher seine Tochter anverlobt. Nun fordern Etzel und Kriemhild ihn auf, im Kampf gegen die Burgunden für seine Eide einzustehen. In einem bühnenreifen Dreiergespräch erklärt Rüdiger, daß er geschworen habe, Leib und Ehre zu wagen, aber nich die Seele zu verlieren. Doch Etzel und Kriemhild lassen nicht locker und so muß er schließlich die Ausweglosigkeit seiner Lage anerkennen.

„Was ich auch unterlassen, was auch beginnene mag,

Stets üb ich schweren Frevel. O jammerreicher Tag!

Doch unterlaß ich beides, so schilt mich alle Welt.

Erleuchte mich in Gnaden, mein Schöpfer hoch im Himmelszelt!“

In der Tradition des Heldenliedes gibt der Dichter der Darstellung der seelischen Befindlichkeit der Handelnden durch Monolog und Wechselrede mehr Raum als einer opulenten Schilderung der Kampfszenen. Die Ereignisse von Rüdigers Ankunft vor den burgundischen Recken bis zu seinem Tode faßt der Dichter in 42 Stropfen. Davon sind enthalten 29 wörtliche Rede, in der Rüdiger erklärt, warum er kämpfen muß und verstanden wird.

Am Ende stehen nur Verlierer auf der Bühne, Alles begann damit, daß man eine Frau nicht so sein lassen wollte, wie sie sich zu sein wünschte. Lüge, Betrug, weiterer Betrug, Vertuschung bis zum Mord und am Ende Krieg. Im Epos mit Folgerichtigkeit dargestellt, eins kommt aus dem anderen, und die Wellen werden immer größer statt kleiner. Ist diese Sicht übertragbar?

Nun, auf den ersten Blick waren es mal wieder die „Großen“, die alles angestiftet haben, die „Kleinen“ wurden nur mit hineingezogen. Muß das so gemeint sein? Der Schriftstellerberuf war schon immer hart, und die Hörer oder gar Auftraggeber des Nibelungendichters waren sicher Privilegierte, die beim Kunstgenuß nicht nach unten blicken wollten. Und wäre der Dichter doch ein Spielmann für das einfache Volk gewesen, so war es bei den kleinen Leuten damals sicher schon so, wie es heute die Regenbogenpresse beweist, daß es in Nachbars Schlafzimmer drunter und drüber gehen mag, wie es will, interessant wird dasselbe erst, wenn es die Prominenz treibt. So läßt sich die Wahl des Schauplatzes auch erklären.

Was aber geschieht, kann sich vor jedem Schlafzimmer, in jeder Familie und Gemeinschaft abspielen. So bleibt als Quintessenz: Wo es in einer Gemeinschaft schon in der kleinsten Zelle, der Zweierbeziehung, mit Objektbenutzung, Lüge und Betrug beginnt, wo schon dem Partner gegenüber die Verpflichtung zur Mitmenschlichkeit nicht eingehalten wird, können sich die Folgen durch die ganze Gesellschaft fortsetzen. So kann Mangel an sozialem Verantwortungsbewußtsein dazu führen, daß auch in einer demokratischen Gesellschaft allzu Viele bereit sind, sich als Soldaten zu verpflichten, nur um drei Mahlzeiten am Tag sicher zu haben. Mit Heeren Verunsicherter, Tiefgekränkter und Enttäuschter ist gut Krieg führen, ja schon der Alltag wird zum dreckigen Kleinkrieg. Frieden braucht erst mal friedliche Menschen als Unterbau. Darum muß auch der Frieden seinen Anfang schon vor der Schlafzimmertür nehmen, hinter der ja menschliches Leben beginnt, oder ein wichtiger Anfangspunkt fehlt ihm.